Eine Theaterkritik vom 26.06.2023 aus der Berliner Schaubühne
Von Klaus Mehrbusch.
Thomas Ostermeiers Inszenierung der »Rückkehr nach Reims«, nach dem gleichnamigen Roman von Didier Eribon (2009 auf Französisch und 2016 in der deutschen Übersetzung erschienen), wurde 2018 zum Berliner Theatertreffen eingeladen und war nun wieder, in überarbeiteter Form und neuer Besetzung, an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz zu sehen.
Drei Protagonisten, ein Tonstudio und eine große Kinoleinwand über der Bühne, das soll an diesem Abend die Kulisse für die Umsetzung des dokumentarischen Essays des französischen Soziologen Didier Eribon werden. In der Neubesetzung spricht leider nicht, wie in der Urform (2017), die großartige Nina Hoss den Buchtext ein, sondern die – nicht wirklich dunkelhäutige, aber auch nicht wirklich weiße (warum die Anmerkung zur Hautfarbe später ausführlicher) – Isabelle Redfern in der Rolle der Katrin ein.
Viel zu lange und nicht wirklich interessant quält sich die gefühlte erste Stunde des Theaterabends durch gelesene Buchzitate, die mit teils dokumentarischem Archivmaterial, teils mit der inszenierten Reise von Eribon zu seiner Mutter und dem gemeinsamen Blättern im Fotoalbum, mit Bildern von Straßen und Häusern einer französischen Kleinstadt und mit vielen Szenen aus dem fahrenden Zug auf der Kinoleinwand unterlegt werden. Ostermeier hat für seine Buchbearbeitung Didier Eribon dafür gewinnen können, einen Film mit einer tatsächlich stattfindenden Rückkehr nach Reims zu inszenieren. Dieses filmische Material mit Originaltexten aus Eribons Buch zu vertonen bildet nun den Dreh- und Angelpunkt dieser Theateraufführung.
Nachdem man schon fast nicht mehr hoffte, dass an diesem Abend, außer Kino und Lesung, auch noch Theater gespielt werden würde, brach die Leserin ihren Text abrupt ab, als zu Eribos Text über den Rechtsruck der französischen und etablierten Linken und dem Erstarken der Front Nationale um Jean-Marie le Pen, die Montage von Bildern öffentlicher Proteste der Gelbwesten und Fridays for Future Aktivisten, streikendem Pflegepersonal und antirassistischen Aktionen auf der Kinoleinwand gezeigt werden.
Hier entspann sich jetzt plötzlich und unerwartet ein durchaus interessanter Disput zwischen Regisseur und Schauspielerin, der den Abend doch noch hätte retten können, und es fielen Worte wie Verschwörung, Verschwörungstheorien, Datenkraken, es wurde über die Dämonen im Hintergrund diskutiert und über Menschen mit sehr viel Geld, die das Weltgeschehen bestimmen. Es wurden Namen wie Gates, Musk oder Bezos ausgesprochen und man spürte förmlich wie das woke, und mit ziemlicher Sicherheit überdurchschnittlich viel Grün wählende Charlottenburger Theaterpublikum im Saal, mehr und mehr nervös auf ihren Stühlen herumzurutschen begann. Man konnte ja nicht wissen, ob dem Publikum jetzt möglicherweise auch noch eine Kritik an den Waffenlieferungen in Kriegsgebiete zugemutet werden sollte. Dem war natürlich nicht so, leider.
Eribon benennt genau hier in seinem Buch das Versagen der etablierten Linken, ebendiesen Bürgertums einer einstmals kommunistischen Arbeiterklasse und studentischen Intellektuellen „[…] die sich damals am Mythos des proletarischen Aufstands berauschten und den Bürgerkrieg predigten […]“ (S. 118), die heute mit ihren neoliberalen Politikinhalten die Menschen den Rechtspopulisten der Front National, bzw. der deutschen AfD in die Arme treiben und diese zunehmend attraktiver machen. „Die linken Parteien mit ihren Partei- und Staatsintellektuellen dachten und sprachen fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der Regierenden, sie sprachen nicht mehr im Namen und gemeinsam mit den Regierten, sondern mit und für die Regierenden […]. Ein Gutteil der Linken schrieb sich plötzlich das alte Projekt des Sozialabbaus auf die Fahnen, das zuvor ausschließlich von rechten Parteien vertreten und zwanghaft wiederholt worden war“. (S. 121)
Im Theatersaal saßen eben genau jene, „ die ihr politisches Engagement der sechziger und siebziger Jahre gar nicht schnell genug als Jugendsünde abtun und in Ämter und Machtpositionen aufsteigen konnten, wo sie rechtem Denken Vorschub leisten mit ihrem Versuch, das Wesens- und Gründungsmerkmal der Linken vergessen zu machen […]“. (S. 117f.) Jetzt, wo es für das linke, woke Publikum im Saal gefährlich zu werden droht und der Regisseur dieses Theaterstücks die Zuschauer bei den Eiern hat, da bricht er, statt kräftig zuzudrücken, die Handlung plötzlich und unerwartet ab und wechselt völlig unvermittelt, förmlich als Ablenkungsmanöver, zu einer, mit kaum zu unterbietenden Plattitüden gefüllten Diskussion über Rassismus und Hautfarbe. Die Protagonisten auf der Bühne erzählen sich jetzt lockere Geschichten vom Nigerianer z. B, der, weil er die Residenzpflicht verletzt hat, zwei Wochen vor der Heirat mit seiner deutschen Partnerin abgeschoben wird, oder wie schwer es für eine dunkelhäutige Schauspielerin ist, Theaterrollen zu bekommen, die nicht diesem Klischee entsprechen. Als ob nicht gerade Tolkiens Hobbits (Amazon prime) zu PoC gemacht worden wären, die deutsche Prinzessin Queen Charlotte (Netflix) von der dunkelhäutigen Schauspielerin India Amarteifio dargestellt werden würde oder Disney Arielle die Meerjungfrau in der total gefloppten Neuverfilmung von Halle Bailey hätte darstellen lassen, was dann auch prompt amerikanische Neonazis und „weiße Rassisten“ mit Hakenkreuzfahnen vor dem Vergnügungspark Disneyworld in Orlando Florida aufmarschieren ließ, weil angeblich Adolf Hitler Filme wie Schneewittchen oder Bambi von Walt Disney verehrte.
Auch der völlig überflüssige Rap des schwarzen Tonstudiomitarbeiters Amewu Nove mag zwar dem Schaubühnen Publikum gefallen haben (es gab hier den ersten Szenenapplaus), macht aber den Abend nicht besser und albern war es auf jeden Fall, den Zuschauern jetzt auch noch den abgehängten Migranten zu präsentieren und ihn über seine Träume, Wünsche und sein Selbstverständnis des ach so schweren Migrantenlebens rappen zu lassen.
Vielleicht ist es jetzt etwas klarer geworden, warum hier immer wieder auf die Hautfarbe der Protagonisten hingewiesen werden muss, denn im Trailer der Schaubühne zu »Rückkehr nach Reims«, sehen wir nur die Besetzung mit Nina Hoss, https://www.youtube.com/watch?v=hwGHLFDy-mY, ohne eine dunkelhäutige Schauspielerin oder einen schwarzen, rappenden Tontechniker. Und so kann sich an diesem Abend das Theaterpublikum der Neuinszenierung wieder getrost zurücklehnen, in dem Wissen bestätigt, wir müssen alle zusammen etwas gegen Rassismus und Diskriminierung unternehmen, Black Lives Matters.
Doch ist das nicht auch schon“struktureller“ Rassismus? Zerstört nicht erst dieses Abheben, diese Reduktion auf Diskriminierung auf Hautfarbe und Ausgrenzung die eigentliche politische Kernaussage Eribons über das Versagen der Linken? Er schreibt, „[n]icht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von »notwendigen Reformen« und einer »Umgestaltung« der Gesellschaft. Nicht mehr von Klassenverhältnissen oder sozialem Schicksal, sondern von »Zusammenleben« und »Eigenverantwortung«.“ (S. 120) Individualisierung, Entkollektivierung, der Abbau sozialer Sicherungssysteme und der Rückbau des Wohlfahrtsstaates, eigentlich vormals von rechten Partien vertretene Themen, wurden unter der Folie gesellschaftlicher Solidarität legitimiert und jetzt plötzlich von Linken auf ihre Fahnen geschrieben. Laut Eribon unterzog sich die sozialistische Linke „[…] einer radikalen, von Jahr zu Jahr deutlicher werdenden Verwandlung und ließ sich mit fragwürdiger Begeisterung auf neokonservative Intellektuelle ein, die sich unter dem Vorwand der geistigen Erneuerung daranmachten, den Wesenskern der Linken zu entleeren“. (S. 120)
Und so blieb an diesem Theaterabend in der Berliner Schaubühne die Chance der Konfrontation mit der eigenen linken Vergangenheit, mit dem Versagen der etablierten Linken und mit der Mitverantwortung für das Erstarken der rechten Populisten ungenutzt und nach diesem Possenstück bleibt der fade Beigeschmack zurück, dass sich auch das einstmals kritische politische Theater der Cancel Culture unterworfen hat und sich, selbst sozialkritische Texte wie die »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon, in seiner selbstgerechten Einfalt so hinbiegt, wie es das regierungsunkritische Narrativ erwartet.
Eribon, Didier (2023): Rückkehr nach Reims, Hamburg.