von Denis Diderot.
Erstaunliche Zufälle in der deutsch-französischen und britisch-französischen Diplomatie ereigneten sich zuletzt: Im April dieses Jahres musste der britische Monarch seine geplante Paris-Reise wegen der Gelbwesten-Proteste verschieben und sprach stattdessen vor seinen deutschen EU-Untertanen im Deutschen Bundestag; eine Bankrotterklärung der zweiten deutschen Demokratie, diese royale Ansprache im hohen Hause zugelassen zu haben. Mehr noch: gemäß Hegels Definition von Nation ist die BRD keine solche mehr seit der wissentlich zugelassenen Nord Stream-Zerstörung vom 26. September letzten Jahres, denn im Range einer Nation muss ein Land stets fähig sein, im internationalen Wettbewerb wirtschaftlich, außen- sowie sicherheitspolitisch und energietechnisch souverän und weitgehend autonom zu bestehen laut Hegel.
Und am vergangenen Wochenende musste Emmanuel Macron seinen Staatsbesuch wegen massiver Ausschreitungen in Pariser Vororten und unzähligen Kleinstädten in der Provinz absagen; der erste geplante Staatsbesuch seit dem Jahr 2000, als Chirac und Schröder, der im Geiste von Rapallo die deutsche Energiesouveränität ausbaute, in offizieller Harmonie zusammentrafen.
Der Tod des jungen Nahel war der Funke, der den Volksgroll zum Überkochen brachte; seit Jahren schießen französische Polizisten schneller als in anderen Ländern Europas, da sie seit 2017 befugt sind bei Nichtbefehlsbefolgung bereits zu feuern. Die deutschen Medien bemühten das übliche vorgefasste Bild der rohen Gewalt zwischen Einwanderern und Sicherheitskräften in Arbeitervororten. Die „Vorrechte der demokratischen Presse“ (Marx) sind heute wie im 19. Jahrhundert dafür da, die Gedanken der Herrschenden unter das Volk zu bringen. Doch heute kommt hinzu, dass die Medienmacht über viele, digitale Kanäle falsches Bewusstsein erzeugt, wo einst noch spontane Freiräume bestanden. Heutzutage wird zudem die vom bürgerlichen Schul- und Arbeitsausbeutungssystem geschürte Langeweile in den Individuen, die sich von der Natur und den anderen Menschen zunehmend getrennt wähnen, mit einer Pseudolebendigkeit gefüllt, welche die Frustrationsschwelle überdies immer weiter sinken lässt. Diese kulturelle und „Emotionsindustrie“ (Domenico Losurdo) hat jedoch ihre Grenzen wie wir in Frankreich immer wieder sehen.
Ähnlich wie beim Arabischen Frühling 2011 fand letztes Wochenende eine rasante Vernetzung durch soziale Medien statt: Daher gab es viel mehr Resonanz, über die klassische Banlieue weit hinausgehend. Auch diese mehrtägige Krawallbewegung war ein spontaner Ausdruck des französischen Kollektivgemüts gegenüber der aktuellen imperialistischen Kriegs- und Kapitalakkumulationsperiode. Die Tatsache, dass im Unterschied zu den mehrwöchigen Aufständen von 2005 diesmal in viel kürzerer Zeit eine ganz ähnliche Anzahl an Festnahmen registriert wurde, beweist, dass die radikale Intensität zunimmt und verdeutlicht die auf Radio France Internationale am 5. Juli genannte Analyse, wonach im Gegensatz zu 2005 neue Bundesgenossen in den Kampf für eine souveräne, soziale Republik sich eingereiht haben: insbesondere die untere Mittelschicht in den kleineren Städten.
Neue Bündnisformen wurden ausprobiert während der intensiven Proteste der Gilets jaunes, die seit November 2018 bereits die Contenance der französischen Bourgeois erschüttern, jedoch ohne klare Führungsstrukturen; der russische Auslandssender RT berichtete am meisten über die Aktionen der Gelbwesten. Die EU-Zensur seit Februar 2022, als russische Sender verboten wurden, wird den gerechten Volkszorn naturgemäß auf das ultraliberale, supranationale Korsett der sog. europäischen Integration, welche von Anfang an als Transmissionsriemen der US-Interessen in Europa dient, umleiten.
Auch wenn kurzfristig Le Pen und Zemmour, zwei Seiten der faschistoiden Spätkapitalismusmedaille, profitieren werden von der Stimmungsmache gegen Einwanderung; mittel- bis langfristig wird das französische Volk ein reinigendes Gewitter auslösen: Fremdenhass wird durch humanistische Zugewandtheit in neuen, menschlicheren Verhältnissen ersetzt werden ebenso wie einst während der Französischen Revolution, als die Integration revolutionär bewusster Ausländer gesetzlich ermöglicht wurde, und voraussichtlich ein weiterer Vulkanausbruch – in Kontinuität mit 1789 und der Pariser Commune von 1871 – erfolgen, dessen flüssige Magmaformenpostkapitalistische, fließende Formen, Inhalte und neue Perspektiven eröffnen werden.
Scheitern des neogaullistischen Diskurses von Emmanuel Macron jetzt offensichtlich:
Hinter den souveränistischen Reden, die der republikanische Monarch im April in Beijing hielt, steht natürlich sein propagandistisches Bestreben, die Nation trotz aller Zentrifugalkräfte notdürftig zu einen. Dies wird jedoch unter den gegebenen Umständen kaum gelingen: Seit Jahren beschweren sich einflussreiche Teile der Machteliten aus dem Sicherheitsapparat, insbesondere dem Militär, über die strategische Vasallisierung durch völlige Reintegration in die NATO-Strukturen, welche von Sarkozy begonnen und unter Macron bis zur nationalen Selbstaufgabe faktisch fortgeführt wurde – Beispiel fehlende strategische Antwort auf den AUKUS-Skandal 2021, als die französische Rüstungsindustrie auf einen Schlag mehr als 50 Milliarden Euro sowie, viel wichtiger, ihre Würde verlor. Auch die diplomatischen Eliten scheren zunehmend aus: unlängst veröffentlichte Radio France Internationale ein aufschlussreiches Interview mit dem Botschafter Claude Martin, der 1999 bis 2007 in Berlin residierte und in seinem neuen Buch hervorhob, dass die französische Nation enttäuscht sei von der zu engen transatlantischen Bindung der Ampel, welche in ihrer Willfährigkeit mit dem Geist des Élysée-Vertrags von 1963 sowie mit dem Aachener Vertrag von 2019 gebrochen hat, als Scholz enorme Aufrüstung mit US-Waffensystemen statt neuen, deutsch-französischen Waffenprojekten ankündigte. Mehr noch: Seine Exzellenz unterstreicht, dass ab der EU-Osterweiterung 2004 ein Ungleichgewicht in den regionalen Block Einzug hielt, das nun die deutsch-französische Asymmetrie zum Bersten bringt.
Und da schließt sich der Kreis: Schon vor Jahren veröffentlichten französische Gewerkschafter Bücher, in denen sie die Überdehnung der EU und das Zerbrechen des „deutsch-französischen Tandems“ beklagten; die Reintegration des alten großdeutschen Vorhofs in die EU musste die deutsch-französischen Spannungen vertiefen, zumal Berlin die von Sarkozy gewünschte „Mittelmeer-Union“ torpediert hatte. Genauso wie wir (Stichwort kollektiver deutsche Schatten in Osteuropa, auf welchen die NATO sich stützt im Kampf gegen die aufstrebenden Kräfte des Ostens) stehen auch die Franzosen am Beginn einer Ära tiefer Umbrüche, in denen die Volksorganisation entscheidend sein wird.
In diesem Sinne lebe die wahre deutsch-französische Völkerfreundschaft jenseits der elitären, nunmehr auf ganzer Linie gescheiterten EU-Lakaienherrschaft, welche vor allem im Interesse nordamerikanischer Oligarchen die vitalen Bindungen der Völker Eurasias auf dem osteuropäischen Schlachtfeld zertrümmert, um so das Ende des Unilateralismus hinauszuzögern – es lebe das revolutionäre Projekt der Multipolarität, mit welchem die europäischen Völker die Luft zum Atmen zurückerlangen werden!
Denis Diderot war in Paris seit den 2000er Jahren aktiv politisch engagiert, u. a. in den Kampagnen gegen die EU-Verfassungsabstimmung 2005