Diskurs des britischen Königs im Bundestag unterstreicht deutsch-französische Krise
Von Denis Diderot.
Seine Hoheit Charles III. hob unlängst an der Spree den verbindenden Kampf an der Seite der Ukraine für „unsere gemeinsamen demokratischen Werte“ hervor. Befremdlich klang aus seinem erlauchten Mund, dass man zusammen die „Souveränität“ verteidige: überschattet die von der NATO 2014 ruinierte ukrainische Souveränität gleichsam als Fantom die deutsche Souveränität? Die F.A.Z. nutzte die Gelegenheit und verordnete eine reaktionäre EU-Identität unter Schirmherrschaft des Regenten: indem wir die „Reihen für die Verteidigung von Frieden und Freiheit schließen, [werde er] auch unser König“.
Auch kam der Monarch nicht umhin, die „Bedrohung durch Russland und China“ sowie die „gemeinsamen Interessen hinsichtlich der Energieversorgung“ zu beschwören; mit der Nord Stream-Sabotage übertrug die NATO offensichtlich ihr Herrschaftsinstrument bellum omnium contra omnes auf Europa. Zumal dieser Terrorakt ein unverzeihliches Verbechen an der Völkerfreundschaft, der Integrität Eurasiens, der Energiepolitik Verbündeter und an des Bio-Königs Steckenpferd selbst: am grundlegensten Prinzip der Ökologie, dem schonenden Umgang mit Ressourcen, darstellt.
Je größer der Abgrund zwischen Anspruch der heeren Ziele des Westens und der Wirlichkeit wird, desto redundanter und abstrakter auch die Klassenberichterstattung: „Lange Zeit sah es so aus, als nehme die deutsche Elite den Briten ihren Austritt [aus der EU] persönlich übel. Doch längst wiegen die vielen Gemeinsamkeiten in der Außen- und Klima- und Menschenrechtspolitik wieder schwerer: der Kampf gegen die Klimakrise; der notwendige ökologische Umbau der Wirtschaft; der Einsatz für eine auf Werten und Regeln aufbauende Weltordnung gegenüber den autokratischen Regimen in China und Russland (…)“ (Das Parlament vom 3. April). So man die barocke Hofberichterstattung abklopft, fußt die deutsch-britische Freundschaft folglich wesentlich auf gemeinsamer ideologischer Feindschaft gegenüber den aufsteigenden Nationen des Ostens.
Der britische Oberbefehlshaber lobte sein Gefolge für die „deutsche Ukraine-Politik“, welche freilich dem verfassungsrechtlichen Friedensgebot des GG zuwiderläuft, und wies London und Berlin -als neuem Juniorpartner- gnädigerweise eine Führungsrolle in puncto NATO-Konfliktbeförderung in Osteuropa zu; soweit also reichlich Kontinuität in Vergleich zum 20. Jahrhundert. Doch im Unterschied zum Kalten Krieg, als die BRD seit Willy Brandt relativ souverän mit der sowjetischem Wirtschaft, selbst dem Energiesektor, profitabel zu kooperieren verstand, verbieten die deutschen Leitmedien heute jegliche unabhängige geostrategische Reflexion.
Dies wird insbesondere in der hysterischen deutschen Berichterstattung über die Macron-Reise nach China von letzter Woche deutlich: Emmanuel Macron sagte gegenüber Politico: „An dem Tag, an dem Sie keine Wahl mehr haben, wenn es um Energie oder Verteidigung geht (…), weil wir die Infrastruktur nicht mehr haben, verschwinden Sie aus der Weltgeschichte“. Diese rationale Äußerung löste in europäischen Chefredaktionen Panik aus. Macron, ursprünglich getrieben durch die souveränistische Volksbewegung der Gilets jaunes, welche seit November 2018 national-populare Forderungen artikuliert, ist später zurückgerudert und rechtfertigte die Energieabhängigkeit von den USA als „notwendige Diversifizierung“. Nichtsdestotrotz markierte er im Rahmen seiner China-Reise den „ewigen US-Paternalismus“, warnte vor der „Falle blinder Gefolgschaft gegenüber den USA“ und hob die europäische Selbstvergessenheit spätestens seit dem 26. September letzten Jahres hervor. Dieser esprit critique entspringt nicht zuletzt der heftigen Rivalitätsphase zwischen beiden Weststaaten beim Übergang vom französisch-britisch koordinierten Kolonialismus zum angloamerikanisch dominierten Neokolonialismus (1946-62, wobei Charles de Gaulle Ende der 1950er die freie Konvertierbarkeit des franc umsetzte, ein Zugeständnis an die nationale Bourgeoise, um sein semi-souveränistisches politisches Projekt -pro-EG, aber anti-NATO- in Wert zu setzen). Diese Geschichte prägt gewiss auch den jetzigen Élysée-Bewohner angesichts des zunehmenden Drucks von der Straße: wie so oft bestimmt die innenpolitische Gemengelage die nationale Außenpolitik.
Hierzulande jedoch ist selbstständiges Räsonnieren in Kategorien von Kräfteverhältnissen verpönt, ja mit medialem Denkverbot versehen. Deutschland ist faktisch seit dem 26. September nicht einmal mehr eine vollwertige Nation im Hegelschen Sinn, da es nun nicht mehr bloß militärisch und geopolitisch, sondern auch grosso modo an Wettbewerbsfähigkeit immens einbüßen wird, nachdem es in den 2010er Jahren auf dem Weg zum wichtigsten Erdgas-Hub des Kontinents war mit entsprechenden volkswirtschaftlichen Gewinnen aus den beträchtlichen Transiterlösen.
Für Berlin war 2022 das Jahr der imperialen Herabwürdigung, während Paris sich ein Jahr zuvor von den angelsächsischen Partnern herabgesetzt sah: Der Fall AUKUS 2021, als die französische Rüstungsindustrie mehr als 50 Milliarden Euro an den großen Bruder verlor, zeigte, dass Paris von Australien nicht ernstgenommen wird, führte zu einer kurzen diplomatischen Krise und rächt sich nun beim Auftritt Macrons in Beijing: „Wir Europäer müssen aufwachen.“, verkündet dort Emmanuel Macron, einmütig mit seinem chinesischen Amtskollegen in puncto europäischer strategischer Autonomie. Als Macron während seiner ersten Amtszeit ähnliche Forderungen in der Sorbonne pompös in einer international sehr beachteten Rede konkretisierte, erlebte er diesseits des Rheins nur ignorantes Schmollen oder verhöhnende Herablassung: So konterte Kramp-Karrenbauer damals an Merkels statt, dass man doch endlich Strasbourg als zweiten Sitz des Europaparlaments streichen solle (was den EU-Verträgen zuwiderliefe!). An dem Bewusstsein für die Demütigung der PIGS (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien) in Folge der Finanzkrise von 2008 schloss Annegret nahtlos an, anscheinend ihres Saar-Schattens überdrüssig, mit dieser den französischen Nationalstolz erniedrigenden Invektive, gepaart mit einem Schuss Suprematiebewusstsein à la Wilhelm II.
Für Charles III. gab es Kanonendonner zum Salut sowie James Bond-Melodien vom Stabsmusikcorps der Bundeswehr (Stichwort Five Eyes, nun von Grünen königlich zelebriert: da dreht Ströbele sich im Grab..). Diese musikalische Persuasionstaktik war auch nötig, um von dem real existierenden britisch-angloamerikanischen reaktionären Block abzulenken; diese Wirklichkeit ergibt sich schon aus den Ursprüngen ihrer Staatsformen; gemäß Heraklit: Eins sind Anfang und Ende: Domenico Losurdo zeigte, dass die französische Revolution im Gegensatz zur US-amerikanischen Unabhängigkeitsrevolution wahrhaft demokratisch war, denn sie befreite in ihrer radikalsten Phase auch die Sklaven; Jakobiner reisten nach Saint-Domingue, um dort die Kämpfe der Zwangsarbeiter sowie der libres de couleur gegen renitente französische Sklavenhalter durchzusetzen, die die Menschenrechte aus wirtschaftlichen Gründen nicht universell implementiert sehen wollten.
Passend zur allgemeinen Verwirrung winkte Campino vorm Schloss Bellevue, befrackter Hofsänger der Mächte des Faktischen, der schon 2015 nach der Beseitigung der griechischen Volkssouveränität im Juli 2015 durch EU und Schäuble, die Bundeskanzlerin als „Retterin Europas“ verklärte. Vermessener Narrensaum der nachsouveränen Bundesrepublik…
Während der königlichen Ansprache erhoben sich gar die Abgeordneten aus Ehrfurcht vor dem Herrscher; wobei dessen Reichtum bekanntlich auf jahrhundertelanger kolonialer Ausbeutung, Sklaverei und atlantischem Menschenhandel beruhte; und allein die Hungersnot in Indien von 1876-1878 forderte 10 Millionen Menschenleben: Rettungsmaßnahmen unterblieben; parallel fanden gigantische royalistische Bankette vor indigenem Extremhunger statt und die Kolonialherren nutzen die desolate Lage, um die koloniale Durchdringungspolitik erheblich zu beschleunigen. Heute bringt die neokoloniale Durchdringungspolitik des Westens in Mitteleuropa den geopolitischen und ökonomischen Abstieg Deutschlands qua Entschleunigung der Akkumulation des gesellschaftlichen Nationalkapitals. Vor diesem Hintergrund mutet die folgende royale Prophezeiung, abgedruckt im Staatsblatt Das Parlament, wie eine Drohung an:
Anstatt einer Rede royaler Hochwürden im Deutschen Bundestag -ein antidemokratischer Kollaps unserer Volksvertretung, den sogar die F.A.Z. bemerkte, aber konzedierte, man könne dies „tolerieren“- gilt es dringend, den indischen Schriftsteller Pankaj Mishra für eine Fortbildung unserer Gesetzgeber zu interkultureller Sensibilität einzuladen.
Eigen auch die Kritik der LINKEN im Vorfeld des Bundestagsbesuchs: Sie hielt sich an der äußersten Oberfläche der monarchischen Form auf, diese als „Diktatur mit historischem Lametta“ missverstehend und so den tieferen, geschichtlichen Ausdruck der Propagandareise verpassend. Zur Reflexion gilt es vielmehr, die Monarchenglorifizierung am Brandenburg Tor als Katalysator der symbolischen Selbstkasteiung in mittelalterlicher Geißler-Manier zu dechiffrieren; eine aufmerksame Journalistin der Berliner Zeitung bemerkte zumindest, dass diese Szene Deutschland als „Entwicklungsland“ präsentierte, wobei das angesichts des düsteren grau-in-grau eine Beleidigung für alle Entwicklungsländer sein könnte… Charles III. am Brandenburger Tor: Da fällt einem ein, dass dieses 1791, also mitten in der Zeit der Französischen Revolution fertiggestellt wurde. Einhergehend mit der Verehrung obrigkeitsstaatlicher Formen verschweigt bzw. verzerrt die deutsche Medienlandschaft die neuen politischen Inhalte, welche das französische Volk auf der Suche nach einer angemessenen politischen, neuen Form dartut: wir erleben mehr Frankreich-Bashing denn je. Während 1995 die Leitmedien noch die Frankreich-Hermeneutik heranzogen, um die ausgesprochen hartnäckigen Protestbewegungen jenseits des Rheins zu verstehen, übernimmt man heute das gegen Moskau eintrainierte Muster des nicht-verstehen-Wollens. Die F.A.Z. wunderte sich am 1. April, dass es gar im einst von Bismarck eroberten Elsass, in „Straßburg zu Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern und Dutzenden Festnahmen“ kam. Die Franzosen auf der Straße fordern rational ein Gesamtkonzept zur Krisenlösung ein; hierzulande sind die kognitiven Kanäle derart reduziert, dass man zu solcher Klarheit kaum mehr im Stand ist und zur allgemeinen Verwirrung trägt die geschichtsunbewusste LINKE erheblich bei. Diese linke Ignoranz könnte zudem Folge der zunehmenden Anglifizierung Deutschlands sein bis hin zur wissenschaftssprachlichen Selbstaufgabe nach dem Vorbild der Skandinavier: Vor fünfzehnt Jahren führte das Max-Planck-Institut als erste große deutsche Forschungseinrichtung Englisch als Hauptarbeitssprache ein.
1793 wurde schließlich die Quadriga auf das Brandenburger Tor gestellt; das Jahr des Triumphs der demokratischen und sozialen Republik in Paris: die Volkssouveränität in Aktion. Die Quadriga wurde in der Antike als Triumpfzug-Gefährt zur Schau gestellt. Während also vor genau 230 Jahren, im 6. April 1793 das comité de salut public eingerichtet wurde, Glanzlicht radikaldemokratischer Volkssouveränität, steht der Auftritt von Steinmeier und Charles unter der Quadriga heute für den obskuren Triumph der transatlantischen Schattenkampagnen der letzten Jahre. So beschreiten wir den angelsächsischen, neokolonialen Pfad anstatt aus Frankreich zu lernen, um in bewusstere Handlungsmuster zurückzufinden.
Die wichtigste Idee von 1792 (Überwindung der Monarchie) umfasst die gemeinschaftliche Einsicht, dass die Wirtschaft und das gesamte Gemeinwesen menschengemacht und somit veränderbar sind. In Folge der gewaltsamen, zutiefst undankbaren Trennung von Russland leidet die deutsche Volksseele nun doppelt: gen Osten und gen Westen, da Berlin weder die französischen Initiativen zur Reform der Eurozone wahrnahm, noch zur AUKUS-Schmach Paris Solidarität bekundete. So sieht sich der deutsche Michel auch von seinen revolutionsbegeisterten historischen Banden der Frühen Neuzeit abgekapselt. Denn Kant würdigte einst die Jahre 1789-94 als „Revolution eines geistreichen Volkes“ und Condorcet pries seinerseits den revolutionären deutschen Geist der Reformation, den Hegel und Marx in neue Höhen befördern sollten, als eine der historischen Grundlagen der Französischen Revolution!
Gar linke Fraktionsspitzen beteiligten sich am herrschaftlichen Bankett im Schlösschen Bellevue mit 130 Gästen. Dr. Peter Brandt benannte in einem neueren Pressebeitrag das „angelächsische Vorbild“ des Nationalsozialismus aufgrund dessen „Kolonisierung der halben Welt“. Das britische Institut CEBR meldete am 30. März 2023, dass unter 16 getesteten Ländern Großbritannien die Spitze einnimmt in puncto psychosozialer Beeinträchtigungen, sogar noch vor BRD und USA; dies zeigt, dass eine neokoloniale Finanzaristokratie mehr seelische Belastungen unter seinen Staatsbürgern hervorruft als etwa im französischen Volk, gekennzeichnet durch seine tiefschürfenden revolutionären Häutungen; im Ergebnis fällt die größere kollektive Gewissensfreiheit im öffentlichen Raum und öffentlicher Meinung auf.
Im März 2023 bezeichnete der zum stellvertretenden Außenminister in Kiew aufgestiegene Botschafter Melnyk Dr. Peter Brandts Friedensaufruf als „senile Idee“; einer der Unterzeichner ist der frühere sozialdemokratische EU-Kommissar Günter Verheugen, der 2014 den Putsch in Kiew als „illegitim“ kritisierte und folgerichtig jedwede Kooperation Berlins mit Kiew dezidiert zurückwies, da „Mitglieder der eindeutig neofaschistischen Partei Swoboda“ in der Putschregierung saßen. Allerdings ging schon damals der Riss durch die SPD, welcher im genannten Friedensaufruf erneut erkennbar war: Der damalige Außenminister Steinmeier empfing am 20. Februar 2014 ein Mitglied von Swoboda in der Botschaft der BRD in Kiew, sie veröffentlichten stolz eine Freundschaftsfotografie. Den Sozialdemokraten Steinmeier verband schon damals eine zweifelhafte Staatsräson mit den politischen Stiftungen, die ebenso russophob agierten: die Konrad Adenauer Stiftung kofinanzierte die Klitschko-Partei seit ihrer Gründung 2010!
„Teil des tiefgreifenden Wandels der Welt“ (Xi Jinping)
Wenige Tage nach dem Royalistenbankett sahen wir in der Volksrepublik China ein Bild bewusster Staatsräson: „Während Macron von Xi empfangen wird, unterzeichnen im Staatsgästehaus ganz in der Nähe die Außenminister von Saudi-Arabien und Iran ihre Absichtserklärung, wieder Botschaften im jeweils anderen Land zu eröffnen.“; „Für die chinesischen Staatsmedien ist die Annäherung zwischen Iranern und Saudis ein Zeichen, dass China die Vereinigten Staaten zunehmend als Ordnungsmacht ablöst – und dies nicht nur im Nahen Osten.“ (F.A.Z. vom 8. April). So geht Diplomatie im Geiste des Weltfriedens. Im Unterschied zu Scholz, der im November 2022 das neue angloamerikanische wording wider das Ein-China-Prinzip kolportierte und damit Xi brüskierte, blieb Macron bei dem seit Januar 1964 bestehenden Konsens beider Nationen; Frankreich erkannte den seit 1949 revolutionären chinesischen Staat als erstes westliches Land überhaupt diplomatisch an.
Während also unsere französischen Freunde im September zur größten Nation der EU aufgestiegen und wir zum angloamerikanischen LNG-Protektorat mutiert sind, erleben wir das Vorspiel einer seit einer Dekade sich abzeichnenden multipolaren Neuordnung. Auffällig auch die gegensätzliche Wahrnehmung und kollektive Verarbeitung dieser Scharnierepoche: jenseits des Rheins findet eine proaktive, populare Bewusstwerdung mit breiter Mobilisierung für die Interessen der großen Mehrheiten statt. Hier erlebt man eine Mischung aus Abwehr, Festhalten an Denkmustern des Kalten Kriegs und zunehmend sogar Rückfälle in Beziehungsstrukturen der Zwischenkriegszeit.
Deutschland befindet sich, zusammengefasst, heute an der Schwelle zu einem kollektiven Wiederholungszwang gegen das Slawentum: 1707 attackierten die Königkreiche Schweden und Sachsen Russland; das Empire rekrutierte vor allem Soldaten des deutschen Rheinbunds für seinen megalomanischen Angriff von 1813; dann 1914-17 und 1941-45; schließlich der NATO-Angriff auf Jugoslawien, das letzte staatliche Gebilde aus dem Versailler Vertrag; und erneut Waffen- und Munitionslieferungen gegen Russland seit 2022 sowie Kampfjets seit Frühling 2023. Focus diffamierte entsprechend vor Kurzem die Russische Föderation mit ihren unzähligen Glaubensgemeinschaften und zahlreichen indigenen Gruppen als „fragile Veranstaltung“. Rückfall in völkischen Duktus! In Anbetracht dieses ethnizistischen Bodensatzes, der jetzt moralisch befördert wird, gilt es zu erinnern, dass es die deutschen völkischen Ideologen waren, die als erste den Rassismus auf Weiße ausdehnten, um die slawischen Völker und ihre Staaten zu Zeiten der Entstehung des Imperialismus zu schwächen – der Drang nach Osten entsprach freilich den Expansionsinteressen deutscher Großindustrieller und Politiker. Tragisch erscheint, dass die gegenwärtige imperiale Restukturierung zu einer Mimikry der deutschen Machteliten führt, die nicht nur groteske Züge annimmt (zwischen Baerbock und US-Führern passt inhaltlich wie optisch kein Blatt wie Journalisten erkannten), sondern handfeste sozialpsychologische Komplexe auszubilden begonnen hat. Die Leitmedien projizieren die Mimikry vom Werderschen Markt auf Wagenknecht: Die F.A.Z. vom 5. April fabulierte von Wagenknechts „Lust an der Mimikry“ und ihrer „Kunst der Irreführung“, um so von der für jeden bewussten Staatsbürger unerträglichen Mimikry der Außenministerin abzulenken.
Der a.k.K.-Zivilisationsbruch
Angelsächsisch koordinierter Kapitalismus (im Folgenden a.k.K.) bietet sich gegenwärtig als Definition des Herrschaftssystems des historischen Westens an, da er die auf energiepolitischer Unterwerfung beruhende Vasallentreue der europäischen Eliten ebenso umfasst wie die autodestruktive Natur dieser von Marx analysierten, vorherrschenden Produktionsweise, welche zwar immer noch global überwiegt, jedoch vom chinesischen Marktsozialismus zunehmend herausgefordert wird und daher, um selbst weiter führen zu können, seine Lakaien mehr denn je ausnehmen muss. Die von Seymour Hersh bewiesene Zerstörung von Nord Stream durch die USA in Zusammenarbeit mit Norwegen sichert langfristig den großen europäischen Absatzmarkt für nordamerikanisches Frackinggas, schwächt nebenbei die deutschen Konkurrenten auf dem Weltmarkt und führt zu den derzeitigen massiven Investitionen deutscher Konzerne in den USA. Washington DC wird jedoch dadurch zu einem Schattenimperium, das seine Untergebenen aussaugt.
Auch reiht sich die erwähnte monarchistische Propagandareise des Königs in diesen größeren Zusammenhang ein: Er eilte nicht zuerst, wie zu erwarten stand, nach Ottawa, Canberra oder in andere imperiale Besitzungen, sondern wählte Paris und Berlin als erste Stationen, da beide zunehmend unsichere Kantonisten auf dem a.k.K.-Schachbrett werden. Paris knüpft im Rahmen seiner achthundertjährigen Nationalgeschichte an seinen revolutionären Zyklus wieder an und Berlin wartet auf die ausstehenden Ergebnisse der Nord Stream-Untersuchungen…
Der a.k.K bildete sich allmählich heraus ab 1815 in Folge der Niederlage von Napoleon I. bei Waterloo und wurde in beiden Weltkriegen vorübergehend von der „fantastischen Kurzsichtigkeit“ deutscher Imperialisten (Georg Lukács) unterbrochen.
Vergleichbar ist der neue Ukraine-Komplex in den internationalen Beziehungen auch mit dem ersten Krimkrieg: Napoleon III. kämpfte 1853 bis 1856 gemeinsam mit London und Juniorpartner Turin, gegen Russland. Das Schwarze Meer wurde anschließend zum neutralen Gewässer erklärt und, wichtigste diplomatische Folge: für die Entsendung italienischer Soldaten aus Piemont, Ligurien und Sardinien sicherten Frankreich und Großbritannien im Gegenzug das risorgimento des Königs Vittorio Emanuele II di Savoia und seines Diplomaten Benso di Cavour ab, was 1860 in die Gründung des modernen italienischen Nationalstaats mündete und diplomatiehistorisch vergleichbar ist mit dem gegenwärtigen Nationwerdungskrieg der Ukraine, ebenfalls unter westlicher Aufsicht.
Im Windschatten der neoliberalen Periode ergab sich ein Wiederaufbäumen der faschistischen Variante der Russophobie: insbesondere im Baltikum, wo seit den 1990er Jahren SS-Veteranen quasi staatlich-feierlich geehrt werden und seit 2014 auch in der Ukraine: die völkische Konterrevolution parallel zur Anbindung an EU und NATO-Strukturen. Nach der neoliberalen Wende der 1980er Jahre erleben wir seit Ende 2021, wie vom Finanzexperten Lafontaine 2022 in einem Tweet mit Weitblick angedeudet: eine faschistoide Wende. Die Kriegspropaganda artikuliert das aktualisierte völkische Credo der vermeintlichen Ungleichheit der Völker. Dieses ultrarechte Ideologem bemühte der a.k.K. bereits in den 1920er Jahren in Palästina und schürte so einen weiteren bis heute ungelösten, potenziell die gesamte Menschheit bedrohenden Großkonflikt zwischen zwei Brudervölkern; die entsprechende Spiegelungsdynamik zwischen ethnisch-sprachlich ähnlichen Völkern erschwert empirisch betrachtet ohnehin die Kooperation und es wäre also umso mehr diplomatische Sensibilität geboten (Psychologen sprechen vom Parodoxon der Nähe).
Unsere eurasischen Lebensadern wurden am 26. September 2022 gekappt: zum Wohle des angloamerikanischen LNG-Booms, zur Aufrechterhaltung der westlichen Hegemonie über Mitteleuropa und zur Spaltung des Superkontinents Eurasia wider die Neuen Seidenstraßen. In diesem Sinn beschreibt „a.k.K.“ hier die imperialistisch funktionale Fusion von deutschem Kollektivschatten (sehr präsent im Baltikum/Ukraine) mit angloamerikanischem Übermut von Ende 2021, als die a.k.K.-Regierungen im Auftrag der USA jegliche Bezugnahme auf den russischen Vorschlag vom 17. Dezember für eine paneuropäische Sicherheitsarchitektur ausschlugen; wie Klaus von Dohnanyi im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen bestätigte, führte diese Gesprächsverweigerung gegenüber dem Kreml zur finalen Eskalation.
Deutsche Außenpolitik schwört im Schatten Rathenaus der Diplomatie ab
Ein europäischer Diplomat äußerte kürzlich in einem Hintergrundgespräch, dass die Causa Nord Stream wie eine „Leiche bei einem Familientreffen“ sei: jeder sehe sie, tut aber so, als sei alles wie immer: „es ist besser, wenn man es nicht weiß“. Ein EU-Diplomat empfahl, Nord Stream aktiv zu vergessen, da andernfalls der gesamte westliche Narrativ in sich zusammenbräche. Dies verdeutlicht, dass der 29. September stukturell ein kontinentaleuropäisches 9/11 (11. September 2001) aufbietet. Bei dieser Win-Lose-Rechnung attribuiert der a.k.K. dem deutschen Michel die Rolle des Osteuropa-Ideologen mit maßgeblichem Anteil an der ukrainischen Kriegsbeute wie in den Weltkriegen: Die S.Z. vom 4. April freute sich im Meinungs-Editorial, dass Habeck sowie BDI-Präsident Russwurm mit deutschen Unternehmern zu Gast in Kiew der deutschen Wirtschaft ein großes Stück des Kuchens sichert; denn „wer zahlt, bestimmt“. Ehricherweise gab der Autor zu, dass dies zu einer neuartigen spätkapitalistischen Rivalität zwischen deutschen und polnischen Kapitalisten führen wird: Berlin hat keinen Grund zu klagen, [aber…] dies ist nicht angenehm für die europöischen Allianzen“. Parallel zum Anheizen der deutsch-polnischen Erbfeindschaft des 18.-20. Jahrhunderts erleben wir hier die beschämenden psychosozialen Auswirkungen der engen, einseitigen Blockbindung, die im Widerspruch zur historischen Erfahrung (Stichwort Rapallo/Walther Rathenau und später Willy Brandt) steht, auf die zentraleuropäischen Eliten. Mehr noch: Diese Habeck-Reise nach Kiew belegt, dass sich gegenwärtig eine neofaschistoide Kompradorenbourgeoisie konstituiert.
Ein Beispiel für die Kapitulation des Bundeskanzlers angesichts dieser grünen Führung in Osteuropa und gegenüber dem übermächtigen information war: Kurz vor seiner Washington-Reise vom 3. März spekulierten Wall Street Journal und F.A.Z., dass Biden zumindest aus wahltaktischen Gründen einen Kurswechsel in der Ukraine erwägen dürfte. Doch das Gegenteil war der Fall: Biden behält die harte Fassade der Reaktion aufrecht und Scholz, vollkommen in passiver Projizierung versunken, forderte am 4. März im Rahmen seiner Samstagsbotschaften die Menschenrechte in Afghanistan und Iran ein (klassische Ableitung innerer Spannnungen nach außen), anstatt die Aufklärung der Nord Stream-Sabotage gemäß der stichhaltigen Beweisführung Hershs einzufordern.
Auch der Deutsche Bundestag war einst weltweit bekannt als eifriges, relativ strikt wissenschaftlich vorgehendes Arbeitsparlament; im letzten halben Jahr verkam es zu einem quasi feudalen Debattierclub, unfähig über die nationale Energieversorgung souverän zu wachen und unfähig, rationale Schlüsse aus dem Kriegsakt des 26. September zu ziehen, der wie ein kolossaler Granit den Alpdruck auf das kollektive Unbewusste ins Unerträgliche steigert. Denn es handelt sich objektiv um eine profunde nationale Demütigung, verbunden mit einem diplomatischen Ungleichgewicht, das geeignet ist, den deutschen Schatten nicht nur zum Feindbild der eurasischen Völker, sondern auch Chinas werden zu lassen, wenngleich wir bei kollektiver Rückbesinnung auf Müntzer und Marx die engsten Freunde der Chinesen sein könnten, die über die längste ununterbrochene Kulturgeschichte der Menschheit verfügen. Im respektvollen Merkelschen Diplomatie-Gleichgewicht klang diese gleichberechtigte Hinwendung merklich an; allerdings versäumte sie die souveräne Energiepolitik sicherheitspolitisch abzusichern, etwa durch Annäherung an die SCO.
Nächste Stufe: bellum internecinum?
Schon Kant wusste, dass „irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes mitten im Kriege noch übrigbleiben muss, weil sonst auch kein Friede geschlossen werden könnte, und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg (bellum internecinum) ausschlagen würde“.
Noch wichtiger für heutige Friedenspolitik: Immanuel Kant mahnte, dass Friedenspolitik nicht unter Sicherheitspolitik zu subsumieren sei; dies gebiete moralische Staatsklugheit.
Die an Nord Stream I beteiligten Nationen, Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande, gaben 2022 die Staatsräson auf, indem sie allesamt, aber vor allem Berlin, das nationale Interesse für die bornierte Sicherheits-Bündnispolitik opferten und so der Volkssouveränität, zentraler Bestandteil realer Demokratie, degradierten!
Aus sozialpsychologischer Perspektive könnte man zudem einwenden, dass die vom a.k.K. verursachte Zerstörung in der Ostsee kollektiv retraumatisierend wirkt: Die Deutschen fühlen sich mit ihren legitimen Energiebedürfnissen (Erdgas als Puffer für dier Erneuerbaren!) übersehen; das bedeutet ein Leid ob unbegründeter Getrenntheit und fehlender Resonanz: dies kann zu einem kollektiven, gefährlichen Gefühlsstau führen, sofern nicht geeignete Kanäle etabliert werden, welche die kollektive emotionale Blockade lösen. Denn so ist die Gefühlslage Deutschlands mittelfristig eindeutig von Ohnmacht, Hilflosigkeit geprägt: eine Emotion des ausgeliefert seins; sobald der innere, affektive Druck zu groß wird, setzen pathologische Schübe ein, welche kein Verstehen, keinen Dialog mehr erlauben, sondern reine Affektentladung provozieren. Diese unbewusste Dynamik des Geschehens zeigt sich etwa an den in Mitteldeutschland 2022 registrierten neofaschistisch-rassistisch motivierten Straftaten, die laut Pressemeldungen einen geschichtlichen Höchststand erreicht haben.
Die Suche nach Wahrheit in der Geschichte entspricht einer uralten, unstillbaren allzumenschlichen Sehnsucht und kann nur um den Preis der Gefährung unserer demokratischen Errungenschaften ignoriert werden.
Voraussetzung also auch für inneren Frieden wird langfristig wird sein: das Ermöglichen klaren Bewusstseins durch Raum für neue, erhebende kollektive Erfahrungen, die unseren individuellen wie gemeinschaftlichen Selbstzugang im Rahmen der nationalen Entwicklung der letzten Jahrhunderte fördern.
Während die USA gesellschaftliche Strukturen in vielen Teilen der Erde aufzulösen neigen, konstruiert China neue, tragfähige Verbindungen etwa zwischen Teheran und Riad und fördert so den Frieden im Jemen und in ganz Westasien.