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Thomas Hobbes, Aladdin und eine Seuche

    Von Kindesbeinen an kenne ich meine Nachbarfamilie, die Neulands. Wir hatten früher böse Streitereien, die uns straucheln ließen, und dann auch friedvollere Zeiten miteinander. Ein gering grollendes Ressentiment wich nie von uns, was sicher unseren sehr unterschiedlichen Herkünften und Familiengeschichten entwuchs. Das zeigt uns eine historische Entwicklung zwischen Vertrauen und Wandel durch Ablehnung. Zum Beispiel die missratenen Söhne der Neulands. Die waren garantiert bildungsfern und sehr ungehobelt, stahlen uns nicht selten die reifen Pfirsiche und sogar Petersilie aus dem Garten und verkauften das teuer und dreist an die Afrikaner um die Ecke. Dann gab es aber auch sehr lustige, gemeinsame Feiern, wo es hoch und heiter zuging. Einmal tanzte Frau Neuland auf dem Tisch, nicht wenig anzüglich. Der Eigentümer der Dachterrasse, Mr. Gunsmith, ein US-Einwanderer, erhielt sich seine Abscheu vor den Neulands, grüßte sie aber oft sehr laut und absichtsvoll wahrnehmbar. Gunsmith hatte schlicht die Art der Amis, freundlich aber nicht nahbar. Und gerüchteweise hieß es, dass da sogar beidseitig vorteilhafte Geschäfte gelaufen seien. Nicht solche Pille-Palle-Sachen wie Petersilie oder Gartenobst. Nur, mehr konnte man leider nicht erfahren.

    Als Neulands umhegter Großvater Mikael eines Tages urplötzlich an Überforderung gestorben war, klarten sich die grauen Nebel zwischen allen auf. Ein politisches Tauwetter sozusagen. Wir tauschten Gegenstände des Hausrats aus und feierten wieder Partys miteinander. Nur der Herr Gunsmith begann bald, erneut zu stänkern. Frau Neuland (nicht Nuland), die liebe Jelena, verließ nach lautstarken Ehestreitigkeiten die Familie. Das war leider der Beginn neuen Ungemachs. Der große Sohn, Alwin, begann nun, das Zepter zu führen. Er benahm sich anfangs schon sehr korrekt und höflich. Doch irgendwie hatte der eine Art der Unberechenbarkeit. Und gleichzeitig – wie kann ich es nennen –, vielleicht eine schelmische Familientreue. Im Papiermüll fand man ein Foto von ihm, hoch zu E-Bike mit nacktem Oberkörper. Das wurde der Stadteilzeitung zugespielt und abgedruckt.
    Auch versuchte Alwin zum Beispiel, die Hausgemeinschaft zur Mitgestaltung des Hofs zu animieren, oder kaufte Pflanzen für die Hausflurfenster. Er nannte das schwülstig „unser Europäisches Haus“. Das macht ja ganz offensichtlich jemanden verdächtig. So behauptete es felsenfest der Mr. Gunsmith. Der dann auch kurzerhand mal die Pflanzen im Hausflur verschwinden ließ, oder Zettel anklebte, dass Alwin bitte die Schuh’ vor dem Haus ausziehen möge, damit er nicht immer wieder die Hundescheiße auf der Treppe verteile.
    Wir hatten noch ganz passable Beziehungen zu Neulands, die uns günstig Kartoffeln aus ihrem Anbau regelmäßig lieferten. Die waren fast kostenlos. Später erfuhren wir dann alle, was es hieß, von diesen günstigen Kartoffeln abhängig geworden zu sein. Aber langsam, ich greife vor.
    Dann ging das los mit den Fahrrädern. Laufend waren die Reifen platt. Selbst die Kowalkes ausm Erdgeschoss waren sich sicher, dass dies Alwin Neuland war. Bob Gunsmith sah Alwin durch den Maschendrahtzaun, Maschendrahtzaun (sic!) – jaja der Schlager von Stefan Raab, haha –, auf die Tomatenpflanzen von Kowalkes pinkeln. Die rissen dann die Pflanzen von ihrem Kleinstacker vorm Fenster und stopften die in den Kinderwagen von Alwins Tochter. Das war die Zeit, als Alwin noch versuchte, die Gespenster zu vertreiben, und konziliant Angebote des friedlichen Umgangs machte. Er wollte sogar noch mehr und bessere Kartoffeln liefern. Doch Monat um Monat, Jahr um Jahr steigerten sich die Aggressionen von Alwin gegen die Hausgemeinschaft. Spucke klebte am obersten Hausflurfenster, wo Alwin doch eigentlich in der 1. Etage wohnte. Also Alwin offenbar Bob Ekel bereiten wollte.
    Im Biomüll waren nun Energiesparlampen, wo sogar am Sockel der Name „Neuland“ aufgeschrieben stand. Bob sah dann einmal, wie Alwin unsere Kartoffeln vor unsere Wohnungstür stellte. Schon am anderen Tag grüßte er nicht mehr. Seit Jahren hatte er uns den „Spiegel“ in den Kasten gesteckt, wenn er ihn ausgelesen hatte. Jetzt war da stattdessen eine Stadtteilzeitung drin. Da stand auf Seite 2, „Alwin Neuland kündigte Partnerschaft“. Ja, er hatte ohne Grund dem Verein „Für unsere demokratische Zukunft e.V.“ den Versammlungsort gekündigt. Wo sich die Mitglieder allmonatlich in seinem Gebrauchtwarenladen treffen konnten. Kein Wunder, dass dann danach auch mal die eine oder andere Scheibe zu Bruch ging. Na, nun konnten wir die Abnahme der Kartoffeln von Alwin nur noch heimlich betreiben. Zur Vorsorge, dass man uns nichts Falsches nachsagt, haben wir dann auch dem Fahrradkeller ein neues Schloss gegeben, so dass Alwin da nicht mehr sein E-Bike hinein stellen konnte.
    Alwins schicke Freundin zeigte sich oft fast nackt nachts am erleuchteten Fenster. (Alter Film USA 1967 „In der Hitze der Nacht“.) Da sprangen unsere Männer laufend, mit den Ferngläsern bewaffnet, gegenüber durch die Parkhecken. Bob Gunsmith verlor dadurch sein linkes Auge, weil er im Rosenbusch erst die Brille verlor und dann sogleich einen tiefen Stachel ins Auge abbekam. Daraufhin wurden die Parkanlagen von weiß-roten Absperrbändern umzäunt. Übrigens sollte dies auch dem Schutz vor Viren dienen. Und Alwin wurde der vorsätzlichen Körperverletzung angeklagt. Seine Freundin reagierte sofort und zeigte sich jetzt sogar im Hellen barbusig auf dem Balkon. Keiner schaute mehr hinauf. Boykott des Zuguckens, so sagte man. Sanktioniert Eure Triebe. Aber es gibt auch noch Gerechtigkeit. Alwin war die flotte Biene schnell wieder los. Ein philanthropischer Oligarch namens Gladio entführte sie mit seinem Tesla Modell 3 hin zu seiner Jacht in Odeffa (Lutetien),
    – nachdem ihm Bob, der nun Einäugige, die Stadtteilzeitung mit ihrem Nacktfoto zugesandt hatte.

    Alwin machte das alles anscheinend gar nichts aus. Er blühte fast auf, flickte täglich die Schläuche seines E-Bikes, so dass nun die Nachbarn meckerten, dass sie es gar nicht mehr nötig hätten, diese Schläuche zu zerstechen, weil Alwin damit nur noch kecker würde. Einem Hitler wie Alwin kann man mit Fahrradschikanen nicht zu Leibe rücken. Da muss Anderes her. Die lustigen Teens trugen T-Shirts mit Fck Lwn. Im Versandhandel gab es Bestellseiten von Biolaboren, wo man wirkungsreiche Gegenmittel zur Bekämpfung von alwinistischer Strahlung ordern konnte. Alwins Gebrauchtladen wurde gekündigt und passenderweise ein neues Geschäft für „Täglich wechselnde Innovationen“ eröffnet. Man erfuhr von den „Unabhängigen Medien“, also den rechten Verschwörungsportalen, dass dieses Geschäft eine Tochter des Allianz-Konzerns, Unterabteilung „Versicherungsschutz für kurzlebige Technikartikel“, sei. Was von den „Fuck up checkern“ sofort widerlegt wurde. Sein Kartoffelhandel blühte aber immer noch, nur mehr im Verborgenen. Keiner wollte trotz seiner Schweinereien davon ablassen.

    Eine gänzlich andere Klientel begann, bei Alwin ein- und auszugehen. Sonderbare Typen mit bunten Hosen und Lämpchen oder Ähnlichem am Hintern. Es hieß seitens der Stadteilgruppe des „Aufklärungsinstituts gegen antisemibigamistische Bestrebungen“, dass Alwin tief in eine Delegitimierung der öffentlichen Wahrheit verstrickt sei. Auch sagte man, ein algorithmisches Wesen, Aladdin 2.0, habe digital die Kontrolle über die Geschicke der Menschheit übernommen, ausgehend von einem Smartphone-Betriebssystem randständiger Nerds. Es gäbe dabei sogar verschwörungsmythologische Verbindungen. Bislang war Aladdin der größte Weltenbeherrscher aller Zeiten und eben nicht der Larry Fink. Es sei die Software der Macht von Blackrock u.a.
    So durfte das Schicksal uns nicht weiter hineinreißen. Alles, ganz klar, lag an Alwin. An wem denn sonst? Wir stoppten den Kauf der Kartoffeln endgültig.
    Endlich geschah etwas. Alwin nahm die Herausforderung an und ging zum Angriff über. Wir hatten ihm am Schlawitchen. Kein Entkommen mehr, nun ging es hart auf hart. Türschloss mit Sekundenkleber vermint, und das ganze Arsenal kleinkalibriger bis schwerer Waffen.
    Was brachte das uns danach? Auch Ärger und Verdruss! Denn Alwin verkaufte die Kartoffeln nun viel teurer an andere und ließ es sich gutgehen.
    Worauf dem Kreisabgeordneten, Usama von der Laier (CUD), eine geniale Idee kam. Wir sollten die Kartoffeln zum alten Preis weiterkaufen. Damit würde Alwin geschädigt, weil er weniger Geld damit in die Taschen bekam. Genial. Nebenbei: Bob Gunsmith bot Spezialkartoffeln zu unerhört hohen Preisen an.
    Parallel zu diesem Wahnsinn erschienen erste sinistere Anzeichen einer nicht gesundheitsgefährdenden Seuche biblischen Ausmaßes. Man nannte es den Unwillen, sich mit digitaler Technik abzugeben. Eine Art Fortschritts-Allergie der Massen. In exponentiellem Anstieg, apokalyptisch geradezu, begannen sich Mehrheiten ganz gewöhnlicher Bürger, von ihrem Smartphone zu lösen.
    Warum denn das nur? Während man Alwin und seine abstrusen Freunde weiterhin auf dem Balkon sitzend, fröhlich-munter auf ihren Tablets und Handys herumtippen sah.

    Der Boykott des unverzichtbaren Teils unseres modernen Lebens hatte unsagbar grässliche Folgen. Menschen sprangen von Balkonen. Huschten teilmaskiert in ihren Autos auf gigantische Parkplatzanlagen, um dort einsam hungernd dem Verlust nachzutrauern. Sie hätten alle überleben können, aber man hatte ihnen gesagt, dass die Abschaltung aller Smartphones am kommenden Tag 0 Uhr erfolgen würde.
    Alle relevanten Qualitätsmedien, also die Soliden, meldeten dies. So konnte nur eine ganz kleine Minderheit, völlig unaufgeklärt, es ertragen und überleben.
    Eben unser Alwin und seine Gesellen. Thomas Hobbes lag wohl falsch, der Algorithmus ist des Menschen Feind. Mit den Viren-Seuchen hat sich dieser Denker weniger auseinandergesetzt.
    Es ist verzeihlich, denn damals waren die Seuchen etwas ganz Natürliches.

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