Ein Gastbeitrag von Dirkson.
Was ist eigentlich so schlimm an Politik, dass sich so viele und immer mehr von ihr abwenden? Bei der Landtagswahl, die kürzlich in Niedersachsen stattgefundenen hat, gab es eine Wahlbeteiligung von 60,3 % der Wahlberechtigten [1]. Mit knapp 40 % wären also die Nichtwähler Wahlsieger deutlich vor allen Parteien geworden. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 wählten 14,33 Millionen Wahlberechtigte nicht. Das ist nach dem Bundeswahlleiter mehr, als es in Ostdeutschland inklusive Berlin überhaupt Wahlberechtigte gibt [2]. Diese Zahlen stelle ich mal zur Situationsbeschreibung vorweg. Ich möchte hier nicht die Missstände der repräsentativen parlamentarischen Demokratie beleuchten, nein, dieser Tauchgang in die Kloake übersteigt meine derzeitige Leidensfähigkeit bei weitem; mir geht es mehr um das Politische an sich.
Seit meiner Jugend, auf die ich nun mit Mitte vierzig zurückblicke, sehe ich mich als politisch links denkenden Menschen. In diesen nun schon deutlich über zwanzig Jahren habe ich verschiedenste Phasen der gedanklichen Beschäftigung mit linken Theorien durchlaufen. Anfangs nur sehr oberflächlich, später unter der konkreten Beschäftigung mit den verschiedenen linken Ideen mich mal mehr mal weniger in die eine oder andere Richtung orientierend. Diese Beschäftigung bestand ab einem bestimmten Zeitpunkt vorwiegend aus der Lektüre mich mitunter zufällig erreichender Texte, meist in Form von Büchern. Ich halte mich für undogmatisch veranlagt und war, so denke ich zumindest, nie auf der Suche nach einem reinen Glauben. Eine grundlegende Ablehnung gegenüber autoritären Haltungen war mir wohl schon immer eigen. Letztlich führte ich aber ein ins Private zurückgezogenes Leben, und wie viele „normale Leute“ kultivierte auch ich eine Abneigung gegen das Politische an sich. Ich schloss mich nie linken politischen Gruppierungen an und beteiligte mich auch nie an irgendeinem Aktivismus, wenn ich auch durchaus mit manchem zeitweilig sympathisierte. Man sollte meinen, dass zwischen einem interessierten politischen Denken und fehlendem politischen Handeln ein Widerspruch besteht. Heute denke ich, dieser Widerspruch ist absolut folgerichtig und kann auch erst durch einen Bruch mit dem, was wir heute unter Politik verstehen, versöhnt werden.
Da auch unter Linken ein Denken und Streben im Rahmen bürgerlicher Machtkategorien mit einem positiven Staatsbezug sehr verbreitet ist, wäre es erst einmal eine wichtige Aufgabe, über das Wesen des Staates Klarheit zu erlangen. Die Sphäre der Politik scheint an den Staat gebunden, sie gibt vor, den Staat zu definieren, wird aber eigentlich von ihm definiert. Warum ist das so? Ein Naturgesetz ist es nicht. Der Begriff „Politik“ bezeichnet angeblich die Strukturen, Prozesse und Inhalte zur Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens. Des ganzen Gemeinwesens? Nein, eindeutig nicht.
Im Berufsleben, aber auch im privaten ging ich Kompromisse ein, weil ich erkannte, dass diese Kompromisse im realen Leben unumgänglich sind, so man daran teilhaben will. Diese Kompromisse prägten aber nie mein Denken, ich würde eine meiner persönlichen philosophischen Grundpositionen mit der Forderung an mich selbst denke radikal, aber handele versöhnlich beschreiben. Versöhnlichkeit stellt hier eine Tugend oder ein Ideal dar, von dem ich nicht behaupten kann, dafür von Natur aus ein besonderes Talent – weder mir selbst noch anderen gegenüber – zu besitzen, aber die Fähigkeit zu Versöhnung und auch zu Verzeihen sind unumgänglich, soll das Leben nicht nur aus permanentem Kampf bestehen. Es ist also auch eine Aufgabe, an mich selbst gerichtet, an der Entwicklung meiner eigenen Persönlichkeit und meines Bewusstseins zu arbeiten. Vielleicht ist es eine Lebensaufgabe, mit der ich nie an ein Ende gerate, was soll’s: Wer nicht anfängt, wird nicht fertig. Ich denke, diese Aufgabe hat auch eine Gesellschaft als Ganzes und mit ihr auch die Linke.
Dass derartige Leitsprüche auch an Grenzen stoßen, zeigte mir im Jahr 2020 die sogenannte „Corona-Pandemie“, als der autoritäre Staat seine blutbeschmierten Hände bis in den privatesten Bereich, die Familie seiner Bürger, später sogar bis in ihre Körper hinein, ausstreckte. Ich begann, mich zu bewegen, suchte und fand, verwarf und suchte weiter. Als mittlerweile verleumdeter Linker, zum Glück nicht ganz allein, suchte ich in der maßnahmenkritischen Protestbewegung Anschluss an linke Gleichgesinnte. In den letzten Tagen des Jahres 2020 fand ich dann eine dezidiert linke Gruppe, die sich an heimatlose Linke wie mich oder an enttäuschte heimatlos gewordene Linke, von denen es eigentlich viele geben muss, mit ihrem Aufruf wendete, ich fand die Freie Linke.
Aber bleiben wir erst einmal bei der oben erwähnten Abneigung gegen das Politische an sich oder vielleicht besser formuliert: bei der Abneigung gegenüber all dem, was man als überlieferte oder etablierte Politik bezeichnen könnte. Für diese grundsätzlich skeptische Sicht auf dieses auf Herrschaftsverhältnissen basierende Terrain mit all seiner Heuchelei – eine Sicht, mit der die Forderung nach Alternativen und Veränderungen im Sinne von gesellschaftlichen Absprachen und Regelungen für die Menschen verbunden ist – hat sich der Begriff der Anti-Politik geprägt. Anti-Politik ist nicht apolitisch, eher im Gegenteil: Das Ideal der Anti-Politik ermutigt Menschen zu handeln, als ob sie frei seien, und die Verantwortung, die diese Freiheit mit sich bringt, zu übernehmen. Auch wenn die Übernahme von Verantwortung eine Grundvoraussetzung ist, will Anti-Politik noch mehr, z.B. die zugrundeliegenden Mechanismen aufzeigen oder die Demaskierung der überlieferten zwanghaften gesellschaftlichen und politischen Strukturen betreiben, die allesamt auf Herrschaft basieren. Klar ist nur ihr Ziel, das sie doch nur negativ anzugeben weiß: eine befreite Gesellschaft, nämlich befreit von Markt (also Kapitalherrschaft) und Staat (autoritärer Herrschaft). Ich möchte hier auch gar nicht versuchen, diesen Begriff in Gänze aufzuschlüsseln, das können andere sicher besser, meine aber, dass die Beschäftigung damit sich lohnt (unten finden sich einige auch von mir zu Rate gezogenen Texte als Leseempfehlung).
Nun komme ich zum Ende meiner kleinen persönlichen Erzählung, die oben beim Erscheinen der Freien Linken stehen blieb. Der Grund, weshalb ich überhaupt auf den Begriff der Anti-Politik kam, ist feststellen zu müssen, wie verbreitet staatsbezogene, herrschaftsorientierte Vorstellungen unter Linken und auch in der Gruppe, die sich Freie Linke nennt, sind. Die neue Freie Linke als Sammelbewegung von kritischen und autonomen (selbstdenkenden, wer das lieber mag) Linken ist in Zeiten des völligen Versagens so vieler durch Staatsnähe und etatistischer Völlerei satt und träge gewordener althergebrachter, angeblicher linker Organisationen eine geniale Idee. Sie kann als Außerparlamentarische Opposition so gut wie keine andere zu einer anti-politischen Stimme der Linken werden und so politisch wirken. Wir müssen nur den Mut haben, neue Wege zu gehen, alte und neue Gräben zu überwinden – aber Vorsicht: Es sind die alten korrumpierenden Wege, auch wenn sie vielen verführerisch einfach erscheinen, die das Ende auch dieser guten Idee bedeuten werden.
Meiner Auffassung nach ist die Abneigung und Skepsis gegenüber der Politik ein wichtiger Punkt in der Analyse der bestehenden Machtverhältnisse und wird unterschätzt. Im Mainstream hat sich der Terminus der Politikverdrossenheit etabliert, wie ich finde, ein irreführender Begriff, der den sich von der etablierten Politik abwendenden Bevölkerungsteil zu Deklassierten erklärt und diesen unterstellt, dem politischen Geschehen nicht folgen zu können, obwohl die derart herabgesetzten genau das gar nicht sollen. Die Nichtwählerzahlen bei den Wahlen auf den verschiedenen Ebenen geben eine Vorstellung von der Größenordnung dieser Ablehnung der etablierten Politik gegenüber. So wie mir, der ich im Angesicht des Drohenden nicht mehr unpolitisch in meinem kleinen privaten Rahmen verbleiben wollte, sondern Möglichkeiten suchte, im oben dargestellten Sinne anti-politisch zu wirken, denke ich, geht es auch anderen. Auch ist die Darstellung, mitunter auch Selbstdarstellung, vieler Teilnehmer der Protestbewegung gegen die staatlichen Maßnahmen als unpolitisch, nur weil sie sich keiner der klassischen politischen Richtungen zuordnen lassen oder auch zuordnen lassen wollen, oft falsch.
Der ideelle Kompass so vieler ist durcheinandergeraten: vorgeblich linke Parteien, die rechte Politik betreiben; sich selbst rechts oder konservativ sehende Menschen, die typisch linke Inhalte befürworten; eine etablierte Medienlandschaft, die überwiegend im Sinne der Mächtigen agiert; ein Staat als ausführendes Organ der organisierten Kriminalität. Es soll das Empfinden von Ohnmacht erzeugt werden, die es ermöglicht, eine autoritäre Politik gegen die mehrheitlichen Interessen der Bürger durchzusetzen. Aktuell erleben wir dies in der sich ankündigenden Energiekrise, die viele Menschen in Folge politischer Entscheidungen mindestens als Energiekostenkrise erreichen wird. All dies und noch viel mehr gilt es zu demaskieren.
Es braucht eine Freie Linke, und zwar eine anti-politische Freie Linke!
Zum Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, sind die Anschläge auf die Ostseepipelines gerade geschehen und ich ahne, man wird es den Anderen, gerade sicher den Russen, in die Schuhe zu schieben versuchen. Dabei ist für jeden, der sehen will, offensichtlich, dass es nur den Kolonialherren und Besatzern aus Übersee nützen kann. Nun ist der Krieg wirklich vor der eigenen Haustür angekommen, eine US-Flottille zog vorbei, die Herren haben es so beschlossen, die Schaffenskraft so vieler ist wie weggewischt. Europa wird an dieser toxischen Beziehung verelenden, vielleicht gar verenden, seine nie legitimierten Führer und Führerinnen werden zu einer kaum noch bemäntelten Kolonialverwaltung ohne Status. „Freunde“, die schlimmere Feinde kaum sein könnten. Die Nabelschnur, über die preiswerte Energie floss, ist vorerst durchtrennt, mit ihr abgeschnitten: ein Grund, Frieden zu halten. Die Welt ist dunkel geworden habe ich unlängst welche sagen hören, und wir werden weiter Politik sehen, die scheinheilig und berechnend im Namen des Lichts noch mehr Dunkelheit bringt. Waffen in Kriegsgebiete wie zuvor Isolation für Alte und Sterbenskranke. Ein Laborvirus als Biowaffe, das zwar nur relativ wenige tötete, aber deswegen so viel Verderben brachte, weil es so viele Menschen entzweite. Kälte und Verzweiflung für die Armen, aber Profite für die Eigentümer, während andernorts das lukrative Schlachten an anderen Armen weitergeht.
Die Damen und Herren der herrschenden Eliten kennen keine Roten Linien mehr, sie scheuen keinen Verrat und keinen Meineid. Und wieder ist es eine von Sozialdemokraten und Grünen geführte Regierung, die Deutschland in kriegerische Handlungen verwickelt, doch die „Staatsvergötzung“ [3] hat ja unter Reformisten eine lange Tradition, und Kriegswirtschaft ist scheinbar nach wie vor Mittel zum Zweck. Das ist Politik und nicht nur die falsche, ihre Kriege sind und waren nie unsere Kriege. Nein, damit muss endlich Schluss sein! Außerdem können wir sie uns schlicht nicht mehr leisten.
Aber unser Schampus wird auch uns schmecken, unsere Häuser werden uns wärmen, unsere Ländereien uns nähren, in unseren Hallen wird der freie Mensch sich beraten. Wir müssen nur erkennen, dass es unser ist und wir ein Besitzrecht daran haben. „Das Eigentum“ hingegen „ist Diebstahl“ [4].
Der Mensch wird Frei von Herrschaft sein.
Es lebe die Anarchie und die Menschlichkeit!
Schaut auch gerne hier rein: https://t.me/FreieLinkeAnarchisten
Leseempfehlungen:
- https://www.streifzuege.org/2002/anti-politik-ist-eine-moeglichkeit/#:~:text=Anti-Politik%20trennt%20sich%20an%20dem%20Punkt%20von%20der,auf%20das%20Gegenteil%2C%20den%20Markt%20oder%20seine%20
- https://keimform.de/2008/was-ist-und-zu-welchem-ende-betreiben-wir-antipolitik/
- Jonathan Eibisch auf seinem Blog https://paradox-a.de/allgemein/anti-politik-und-der-kommunistische-anarchismus/
- Jonathan Eibisch, https://direkteaktion.org/anarch-syndikalismus-und-anti-politik-teil-1/
- Robert Kurz in Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft, Band 19 (1997), http://www.linke-buecher.de/texte/streifzuege/r-kurz_antioekonomie-und-antipolitik_krisis19_1997.htm
[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/3175/umfrage/wahlbeteiligung-bei-den-landtagswahlen-in-niedersachsen-seit-1947/#:~:text=Die%20Statistik%20bildet%20die%20Entwicklung%20der%20Wahlbeteiligung%20bei,F%C3%BCgen%20Sie%20diesen%20Inhalt%20ihren%20pers%C3%B6nlichen%20Favoriten%20hinzu
[2] https://bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/europawahl-2014/2014-03-31-wahlberechtigte-nach-bundeslaendern.html
[3] Willy Huhn in „Der Etatismus der Sozialdemokratie. Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus“, S.31 https://www.ca-ira.net/verlag/buecher/huhn-etatismus/
[4] Pierre-Joseph Proudhon, https://www.wissen.de/lexikon/proudhon-eigentum-ist-diebstahl
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel ist zuerst hier erschienen: https://wordsmith.social/freielinkeanarchisten/wir-werden-ohne-politik-leben. Er hat in der Redaktion kontroverse Debatten ausgelöst. Wir möchte sie auch hier nun gern eröffnen.