Von Klaus Mehrbusch – Foto: Geraldine.
Im Lockdown geschlossene Hochschulen, Zugang zu Lehrveranstaltungen nur unter 2G oder sogar 2G+ oder ganze Semester, die komplett im Home-Learning stattfanden – die sogenannte Coronapandemie hat für viele Studentinnen und Studenten das Studieren in den vergangenen zwei Jahren bestimmt und sie mit Herausforderungen konfrontiert, die so vor Studienbeginn nicht absehbar, ja noch nicht einmal vorstellbar waren und sich damals nach Science-Fiction angehört hätten. Gleichzeitig sind genau diese Maßnahmen dieselben Schlüsselelemente, die den aktuellen Prozess der Umgestaltung von Lehre und Wissenschaft bestimmen, und führen das fort, was mit der Umsetzung der Hochschulreform bereits im Jahr 1999 als sogenannter »Bologna-Prozess«[1] begonnen wurde. Wesentliches Element der Umgestaltung der EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt sollte diese – vornehmlich ökonomisch orientierte – Hochschulreform sein. Doch statt die Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen eines reformierten Studiums zu erweitern, schränkt die veränderte Hochschullehre diese immer weiter ein und produziert permanent künstliches Leid (vgl. Siegmund 2015: 39f.).
Eine veränderte, zunehmend digitalisierte und rein ökonomisch orientierte Hochschullehre ist dafür verantwortlich, dass z. B. betriebswirtschaftliche Handlungsvorgaben allen anderen Inhalten eines Bachelor- oder Master-Studiums vorangestellt werden. Durch die Verkürzung der Regelstudienzeit bleibt für Arbeits- oder Lerngruppen bzw. politisches und kulturelles Engagement kaum noch Zeit. So sind die Reformprozesse der vergangenen Jahre dafür mitverantwortlich, dass sich in Hochschulen zunehmend Geschichtsvergessenheit und Theorieabstinenz breit machen und dass akademische Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen fast völlig verloren gegangen ist. Zu Recht stellt Seithe die Frage, ob die Einführung der neuen internationalen Studiengänge Bachelor und Master nicht eine entscheidende Rolle bei der gravierenden »Entpolitisierung« der Studierenden spielt (vgl. 2012: 429) und es bleibt die Frage offen, ob diese Entwicklung nicht nur nützliche Nebenerscheinung, sondern ganz im Gegenteil genau in dieser Form gewollt und beabsichtigt ist.
Diesem Narrativ folgend erleben wir derzeit unter der Folie der Corona-Krise eine beispiellose Politisierung der Wissenschaft und eine vermehrte Umstellung auf digitales E-Learning von der Grundschule bis hinauf zur Universität. Für das Studium bedeutet dies eine Verunmöglichung studentischen Lebens sowie die Vereinzelung Studierender, bedingt durch eine zunehmende Fokussierung auf das eigenverantwortliche Online-Lernen. Dieses suggeriert eine Flexibilität, die es in der Praxis nicht gibt.
Die Ökonomisierung der Lehranstalten im Bologna-Prozess und der zunehmende Missbrauch von Wissenschaft unter dem Corona-Narrativ
Die Freiheit und Unabhängigkeit von Wissenschaft sind nicht erst seit Corona massiv gefährdet. Es ist inzwischen mehr als deutlich, „[…] dass die privatwirtschaftliche Expansion des Kapitalismus den öffentlichen Bereich der Wissensproduktion erreicht und mit dessen Kolonialisierung begonnen hat“ (Knobloch 2010: 129). Wirtschaftlich begründete Interessenskonflikte, z. B. durch die Finanzierung von Forschungsvorhaben mittels privater Organisationen, Stiftungen und Unternehmen oder die Verpflichtung von Professoren zur Einwerbung von Sponsorengeldern, gefährden die absolute Ergebnisoffenheit wissenschaftlicher Forschung. Auch universitäre Entscheidungsgremien werden mehr und mehr von politischer Einflussnahme bestimmt. In enger Verwobenheit mit ökonomisch forcierten Strukturen übernehmen heutzutage Forschung Betreibende, auf Kosten der Unvoreingenommenheit und Neutralität ihres Wissenschaftlerdaseins[2], zunehmend die Position von Lobbyisten, Geschäftsleuten oder Politikberatern. Dieser ökonomischen Dekonstruktion wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse gilt es, die Rekonstruktion humanistischer Bildungsinhalte entgegenzusetzen. Wissenschaftlicher, also auch pluraler Diskurs und schonungslose Kritik (z. B. an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen oder unwissenschaftlicher Corona-Propaganda) sind unverzichtbare Teile akademischer Forschung und Lehre.
Im gleichen Atemzug mit dem Bologna-Prozess wird heute von Studierenden ein Verlust an kritischer Autonomie bemängelt bzw. von weniger Flexibilität und weniger Freiraum für ein selbstbestimmtes, im Verlauf zunehmend von den eigenen Fragestellungen geleitetes Studium gesprochen, sowie das Fehlen einer intensiven Auseinandersetzung mit den Studieninhalten genannt (vgl. Ode 2012: 3). Vielerorts werden das »BaMa-Diktat«[3], die starke Reglementierung und Verschulung sowie die Unwissenschaftlichkeit zahlreicher Studiengänge kritisiert. Studentinnen und Studenten beklagen den Zeitmangel, die zu hohe Prüfungs- und Stoffdichte sowie einen erhöhten Konkurrenz-, Noten- und Leistungsdruck. Kleinteilig vorgegebene Lehrinhalte nehmen den Studierenden die Möglichkeit, eigene Interessenschwerpunkte auszuwählen oder sich wissenschaftlich experimentell mit einer Fragestellung auseinanderzusetzen.
Die drei großen, mit der Bologna-Reform formulierten Ziele zur Umgestaltung des europäischen Hochschulsystems waren und sind »Mobilität«, »Beschäftigungsbefähigung« und »Wettbewerbsfähigkeit«. Das als »Bologna-Prozess« bezeichnete Transformationsvorhaben galt und gilt der Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraumes und der Gestaltung einer dreistufigen Studienstruktur mit dem Bachelor im ersten sowie dem Master im zweiten und der abschließenden Promotion im dritten Studienzyklus. Formuliertes Ziel ist, und das wird besonders mit der »Lissabon-Agenda« oder »Lissabon-Strategie« von 2000 deutlich, Europa zu einem dynamischen und innovativen Wirtschaftraum (inzwischen umfasst dieser europäische Hochschulraum insgesamt 48 Mitgliedsstaaten) in der globalisierten Wissensgesellschaft zu entwickeln und für das akademische Studium den Schwerpunkt auf Effizienz, ökonomischen Nutzen und Beschäftigungsfähigkeit zu legen (vgl. BMBF 2009: 12). Das Vorhaben ist allerdings nicht als reiner EU-Prozess zu betrachten, da es über die Grenzen des Mitgliedschaftsraums der Europäischen Union hinausgeht und somit einen auf Gesamteuropa bezogenen Koordinierungsprozess darstellt (vgl. Walter 2006: 14).
Mit neoliberalen Werbeformeln wie »international«, »flexibel« oder »modern« wurde die europäische Hochschulreform medienwirksam von der Hochschul-Rektoren-Konferenz (HRK) beworben und als Erfolgsgeschichte verkauft. Doch die Bologna-Versprechen, z. B. das der Reduzierung sozialer Selektion beim Hochschulzugang, konnten in der Umsetzung nicht erfüllt werden. „Von 100 Kindern aus den oberen sozialen Herkunftsgruppen studieren 81, von 100 Kindern aus den unteren sozialen Herkunftsgruppen studieren gerade einmal 11“ (Knobloch 2010: 139). Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass der überwiegende Teil der Nutzer von E-Learningangeboten einen qualifizierenden Schulabschluss besitzt und aus finanziell bessergestellten und gebildeten Schichten kommt. Noch immer sind die Zugangswege, auch zu einem Studium, sozial hoch selektiv und es kann bei Weitem nicht für alle von einem freien Zugriff auf akademische Bildung ausgegangen werden. Bestimmte Zielgruppen bleiben somit nach wie vor z. B. von der Teilnahme an berufsbegleitender Online-Lehre ausgeschlossen. Es gilt also nicht Chancengleichheit herzustellen, sondern Chancengerechtigkeit zu ermöglichen. Besonders hier stellen Präsenzzeiten, Peer-Teaching, Kleingruppenkontakte und kooperatives, selbstorganisiertes Lernen Hilfen bzw. Angebote zur Verfügung, die sprachliche, soziale oder herkunftsbasierte Defizite dezimieren oder sogar ausgleichen können.
Zahlreiche Kritiker beschreiben die neue Studienstruktur als monetär fixiert und einseitig auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet. »Employability« im Sinne von Berufs- und Beschäftigungsbefähigung und die Bereitstellung von benötigtem »Humankapital« für Wirtschaft und Industrie sind zu den alleinigen Zielen wissenschaftlicher Qualifizierung geworden. Mit der Umsetzung der Bologna-Reformen haben betriebswirtschaftliche Rationalität und die Gesetze des Marktes Einzug in die universitäre Bildungs- und Studienlandschaft gehalten, geprägt von unternehmerischem Selbstverständnis und ausgerichtet auf Effizienz und Beschäftigungsbefähigung. In beiden Systemen, Bildung und Wirtschaft, werden ökonomische Zielvorgaben und die Logik der Verwertbarkeit als handlungsbestimmend deklariert. Im Zuge der Umgestaltung haben Hochschulen die Unabhängigkeit der Lehre und Forschung von staatlichen bzw. wirtschaftlichen Interessen verloren, denn unternehmerisch ausgerichtete Forschung läuft immer Gefahr, drittmittelkonform angelegt und gezielt in Bereiche gelenkt zu werden, die Gewinn versprechen oder sich am aktuellen Mainstream orientieren. Durch diese Entwicklungen setzen sich akademische Bildungs- und Forschungseinrichtungen dem Risiko aus, besetzt, erobert und gleichsam zur Zweigstelle von Unternehmen, Behörden, Geldgebern oder Verbänden zu werden (vgl. Ode 2012: 2ff.; vgl. Pongratz 2013: 105; vgl. Münch 2011: 372). Im Zuge des Bologna-Prozesses dürfen sich nunmehr auch Fachhochschulen als »Universities of Applied Sciences« bezeichnen. Doch aufgrund dieses Paradigmenwechsels und einer zunehmenden Abhängigkeit von einzuwerbenden Drittmitteln bzw. erfolgreichen Studienabschlüssen in Regelstudienzeit müssen sich viele universitäre Bildungsanstalten heute die Frage gefallen lassen, nicht ob, sondern an welchen Teufel, z. B. als Gegenleistung für einen schön klingenden Titel, sie ihre Seele verkauft haben.
Die gute, alte Mär vom sogenannten »lebenslangen Lernen«
Der Bildungsbegriff ist in der aktuellen Diskussion zu einer leeren, beliebig verwendbaren Worthülse, zu einem »Containerwort« degeneriert, welches sich je nach Bedarf mit Plastikwörtern[4] der Reform wie etwa Selbstoptimierung, Beschäftigungsbefähigung oder Humankapital befüllen lässt (vgl. Pongratz 2013: 7). Bildung jedoch muss als lebenslanger Prozess gedacht werden, mit dem durch Erkenntnis gesellschaftliche Ordnung konstruiert und strukturiert wird. Köbler spricht im etymologischen Rechtswörterbuch von Erkenntnis im Sinne einer „[…] vom Bewußtsein der Wahrheit begleitende[n] Einsicht in einen Sachverhalt […]“ (1995: 112). Bildung ist immer primär dazu angehalten, „[…] den gesellschaftlichen Widerspruch von eingeforderter Selbständigkeit und auf geherrschtem Zwang aufzunehmen und auszutragen“ (Pongratz 2013: 18). Bei der näheren Betrachtung gilt es zu unterscheiden zwischen einem reformgeprägten Bildungsbegriff, der lediglich auf Beschäftigungsbefähigung und Arbeitsmarktorientierung zielt und sich eher im Korsett von Ausbildung verorten lässt, und einem Bildungsbegriff, „[…] der durch Vernunft, kritisches Denken, Freiheit und die Fähigkeit zu einer über das Bestehende hinausweisenden Gesellschaftsanalyse gekennzeichnet ist“ (Müller 2011: 103). Eine Beschränkung von Bildung auf die Kenntnis von Sachverhalten und die Aneignung spezifischer Fähig- und Fertigkeiten entzieht ihr den Selbstwert und reduziert sie auf ein beliebiges, marktfähiges Tauschobjekt.
Schon immer war und ist es so, dass der Mensch, egal ob »Homo sapiens neanderthalensis« oder »Homo oeconomicus«, sein Leben lang gezwungen war und ist zu lernen. Diente dieser Erkenntnisgewinn in der Frühzeit in erster Linie dem puren Überleben, so wird der heutige Lernprozess nicht nur mit Existenzsicherung, sondern häufig auch mit dem Wunsch nach Selbstverwirklichung und der Analyse der Praxis aus einer wissenschaftlichen Perspektive verbunden. Im Sinne Humboldts erhält der »Homo studens« erst im Rahmen eines universitären Studiums seine spezifische Bildung. Ganz entscheidend für Humboldt ist der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn, der Ziel eines jeden Studiums ist. Wissenschaft stellt für ihn die lebenslange Suche nach Erkenntnissen dar – in dem Wissen, dass diese Suche nie zum Auffinden eines Ergebnisses führen und somit die Suche nie beendet werden kann (vgl. Müller 2011: 28).
Im sogenannten »Leuven-Kommuniqué« von 2009, das aus der Konferenz der für die Hochschulen zuständigen Ministerinnen und Minister hervorging und unter dem Titel „Bologna-Prozess 2020 – der Europäische Hochschulraum im kommenden Jahrzehnt“ veröffentlich wurde, wird in Kapitel II. „Lernen für die Zukunft: Prioritäten in der Hochschulbildung für das kommende Jahrzehnt“ zum Thema »lebenslanges Lernen« ausgeführt, Voraussetzung für lebenslanges Lernen sei, dass Qualifikationen über flexible Bildungswege, darunter auch im Teilzeitstudium oder berufsbegleitend, erworben werden könnten (vgl. Leuven/Louvain-la-Neuve Kommuniqué 2009: 3).
Ein solches Verständnis lebenslangen Lernens als eine dem technischen Fortschritt und der wirtschaftlichen Verwertbarkeit dienstbar zu machender beruflicher Weiterbildung ist genauso widersinnig wie falsch. Zu unterscheiden ist, welches Wissen der sogenannten »Halbwertzeit« unterliegt und zum Teil bereits in dem Moment überholt ist, in dem es vom studierenden Individuum aufgenommen und wieder ausgeschieden wird, und welche Erkenntnisse auf Dauer einen Erkenntnisgewinn darstellen. Wie Knobloch darlegt, stellt z. B. das World-Wide-Web kein Wissen, sondern nur Informationen zur Verfügung. Erst in den Köpfen der Individuen erwächst aus Information Wissen (vgl. 2010: 127). Auch bei dem im politisch-gesellschaftlichen Diskurs positiv konnotierten Begriff »lebenslanges Lernen« handelt es sich also bei genauerer Betrachtung nur erneut um ein beliebig befüllbares »Containerwort«, dem per se kein bewertbarer Inhalt zukommt. Es ist nicht mit einem Lernen gleichzusetzen, welches einen wissenschaftlich forschend Erkenntnisgewinn anstrebt. Ungeachtet dessen kann sich der »Homo sapiens« der Gegenwartsgesellschaft diesem politisch auferlegten, immer und unbegrenzt gültigen Lernzwang kaum noch entziehen. Diese Entgrenzung lässt keinen Rückzugsort mehr offen, und die Entzeitlichung von Lernprozessen zwingt nahezu alle Individuen, ihre erworbenen Kompetenzen und Fähigkeiten ständig und immer wieder aufs Neue einer verwertungsorientierten Kontrolle und Markttauglichkeitsprüfung zu unterziehen. Reformhoffnungen, die mit der Einführung des Deutschen Qualitätsrahmens für lebenslanges Lernen (DQR) 2009 mehr Durchlässigkeit innerhalb des deutschen Bildungssystems und eine größere Mobilität verbanden, „[…] stehen eine weitgehende Orientierung auf Wettbewerb und wirtschaftliche Verwertungsinteressen entgegen“ (Overwien 2012: 1112).
Die von Staatsmacht sowie ökonomischen und ideologischen Zurichtungen befreite »unbedingte Universität«
So wie Jacques Derrida es bereits 1998 auf seinem Vortag an der Universität Stanford in Kalifornien zum Thema „Die Zukunft der profession oder Die unbedingte Universität“ formuliert hat, muss Universität immer „[…] ein Ort letzten kritischen […] Widerstands gegen alle dogmatischen und ungerechtfertigten Versuche sein, sich ihrer zu bemächtigen“ (Derrida 2015: 12). Sie muss sich gegen zahlreiche Mächte in Opposition bringen, „[z]ur Staatsmacht, […] zu ökonomischen Mächten, […] zu medialen, ideologischen, religiösen und kulturellen Mächten, welche die kommende und im Kommen bleibende Demokratie einschränken“ (ebenda: 14).
Hochschule und akademische Lehre müssen sich von neoliberalen und ökonomischen Vorgaben lösen. Sie müssen zu ihrem ursprünglichen Auftrag und Inhalt zurückkehren und so tun, als wollten alle Studentinnen und Studenten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden. Ihnen muss vor allen anderen Dingen im Rahmen der Studienordnungen und durch ausreichende Unterstützung wieder mehr Zeit zur Verfügung gestellt werden, um komplexe Aufgaben zu durchdringen, schwierige Problemstellungen zu lösen oder interessante Randbereiche intensiv zu erforschen, um so am Ende zu erkenntnisspendenden und auch neuen Ergebnissen zu gelangen.
Hochschullehre muss sich lösen vom »Nützlichkeitsdenken« und sich wieder mehr der »Bildung durch Wissenschaft« widmen, im Gegensatz zu Humboldts Zeiten jedoch nicht nur für vier Prozent (vgl. Knobloch 2010: 194), sondern für alle Menschen eines Altersjahrgangs, die dies wünschen. Studentischer Erkenntnisgewinn darf sich nicht länger an seiner Effizienz messen lassen müssen, sondern muss sich frei und ungehindert entfalten können. Rein auf die ökonomische Verwertung von Humanressourcen reduzierte Bologna-Studierende, die im bloßen »Bulimie-Lernen«[5] gefangen sind und nicht gelernt haben, selbständige wissenschaftliche Denk- und Reflexionsprozesse zu initiieren, dürfen nicht Ergebnis neuer Hochschulpolitik und -didaktik sein. Es gilt, den Studierenden gegenüber, die permanente Unterstellung von »Faulheit« sowie mangelnder Motivation abzulegen und die negative Grundeinstellung in eine grundsätzlich positive, den Studierenden Freiheit und Selbstgestaltung zusprechende umzukehren. Die Zeiten, in denen ein Studium die Möglichkeit bot, selbstbestimmt zu lernen und die eigene Persönlichkeit zu entwickeln oder alternative Lebensweisen zu erproben, sind lange vorbei. Heute bedeutet die Entscheidung zu studieren nicht ein mehr an Zeit- und Freiheitsgewinn, sondern, ganz im Gegenteil, den Verzicht auf eben beides und prägt auf diese Weise einen Lebensabschnitt voller Entbehrungen, Einschränkungen und Mehrfachbelastungen – ein „stiller Lehrplan“ ganz im Sinne der zukünftigen wirtschaftlichen Verwertbarkeit der Studierenden.
Lehrende und Studierende gleichermaßen sollten keiner äußeren Autorität außer der Wissenschaft selbst, keinen Lehrplänen und Leistungsnachweisen, sondern, in einer angemessenen Erfüllung der persönlichen Interessen und Neigungen, vor allem der eigenen Verantwortung unterworfen sein. Auch wenn es angesichts neoliberaler und global-ökonomischer Hochschulstrukturen nach »Sozialromantik« klingt, so sollte der Glaube an die guten Absichten des Menschen, trotz aller angebrachten Bedenken, die Sicht auf Lehre und Lernen im Studium bestimmen.
Um der zunehmenden Ökonomisierung in den Hochschulen angemessen begegnen zu können, braucht es, im Sinne Derridas, eben die »unbedingte Universität«, deren Neutralität staatlich garantiert und demokratisch kontrolliert wird, die die Freiheit des Geistes propagiert und allen schlechten Ratgebern die nackte Schulter zeigt. Es gilt, heute mehr denn je, sich der drohenden Abschaffung des Prinzips Universität/Hochschule als bedingungsfreiem Raum für unbegrenztes Forschen, Lehren und Lernen mit allen Mittel zu widersetzen. Im Glauben an die Werte von morgen proklamiert Jacques Derrida die »unbedingte Universität«, die von Staatsmacht, ökonomischen, medialen und ideologischen Vereinnahmungen und somit von jeder einschränkenden Bedingung befreite, wissenschaftliche Lern- und Forschungsstätte; Einen Ort, an dem die voraussetzungslose Erörterung aller Probleme und das Recht gelten, alles öffentlich auszusprechen, was immer im Sinne des auf Wahrheit gerichteten Forschens, Wissens und Fragens ist (vgl. 2015: 9f.).
Eigenverantwortliches Online-Lernen als coronabedingte Notwendigkeit oder Teil des Hochschulreformprozesses?
Die unter der Folie der Coronakrise auf ein Minimum reduzierten physischen Begegnung zwischen Lehrenden und Studierenden entziehen dem Studium die diskursive wissenschaftliche Auseinandersetzung und mäandern im virtuellen Raum, ohne sich widersprechende Gegenpole oder herausfordernde Theorien zur Verfügung zu stellen. Ein zwangsloses Plaudern im Online-Chat kann nicht annähernd mit einer kontroversen, differenziert geführten und zeitsynchron für alle Beteiligten erlebbaren Diskussion verglichen werden. Diskussionen in Online-Foren leiden an der nicht zu unterschätzenden zeitlichen Verzögerung und dem Mangel an »Face-to-Face-Kommunikation«. Unterschiedliche Arbeitsstile, abweichende Zeitbudgets oder differierende Lernkonzepte online studierender Individuen erschweren z. B. die Erfüllung kooperativer Aufgabenstellungen in eng gesteckten Zeitfenstern. Auch erfolgreiche Gruppenarbeiten sind abhängig von funktionierenden, physischen Netzwerken. Gruppenpräsenzphasen stellen den Handlungsrahmen zur Verfügung, der notwendig ist, um untereinander sowie mit der dozierenden Person in einen offenen und prozessorientierten Diskurs zu treten und gemeinsam »auf die Suche gehen« zu können.
Eine fast ausschließlich digital und von Ferne durchgeführte Hochschullehre ist ihrer Physis und realen Existenz beraubt, entkörperlicht und virtualisiert, einer Digitalisierung sowie Datenverarbeitung preisgegeben, im Zustand, wie Derrida es nennt, des unmittelbaren »Weltweit-Werdens« jenseits staatlich-nationaler Grenzen, und hat ihren Kampfplatz theoretischer Auseinandersetzung eingebüßt (vgl. 2015: 25f.). Da Bildung und Lernen niemals nur kognitiv, sondern immer in einem Wechselspiel von Emotionen, sozialer Interaktion, kulturellen Reserven sowie Eigenerleben stattfinden, stellen Präsenzzeiten unerlässliche Faktoren zielführender Hochschullehre dar. Daraus folgernd benötigten besonders online zur Verfügung gestellte Lerninhalte – und das nicht nur ergänzend, sondern als unabdingbaren Bestandteil – Präsenzzeiten und »Face-to-Face-Interaktionen« um einen Erkenntnisprozess zu initiieren.
Der durch die einschränkenden Coronamaßnahmen bedingte Mangel an Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten muss in diesem Zusammenhang als überaus problematisch eingestuft werden. Gerade aufgrund permanenter Neuregelungen und Anforderungen ist in einer solchen Krisensituation ein direkter Austausch Studierender notwendig. Sie bedürfen auch seitens der Lehrenden »leibhaftiger« Rückmeldung, Beratung und Hilfe oder Ermutigung, um das Studienziel erfolgsorientiert weiter verfolgen zu können. Bildung bleibt noch immer primär an »Face-to-Face-Interaktionen«, an die »nature of teaching«, d. h. an singuläre und situative Kontexte, gebunden (vgl. Pongratz 2013: 108).
Während mit der Virtualisierung akademischer Lehre die Hoffnung auf eine höhere Flexibilität im Studium verbunden wurde, sorgen exakt modularisierte Online-Studiengänge, die in ihrer inneren Konstruktion in weitere, kleinteilige Sequenzen zerlegt und von genau terminierten Arbeitsschritten und Leistungskontrollverfahren unterbrochen werden, eben nicht für einen selbstgesteuerten Erkenntnisgewinn. Sie widersprechen vielmehr jedwedem Anspruch auf studentische Selbstorganisation sowie der Möglichkeit, eigene Wege zu suchen und eigene Antworten zu finden und sie erinnern an tayloristische[6] Prinzipien industrieller Produktion. Modularisierte Studiengänge erfordern per definitionem vorgefertigte Lehrinhalte, behindern also eine flexible Anpassung der Lernprogramme und legen im Detail fest, welche abrufbaren Kompetenzen als Ergebnis einer Lerneinheit erwartet werden (vgl. Knobloch 2010: 242). Sie gleichen einem serviceorientierten Warenangebot konkurrierender »Bildungs-Discounter«, in dem die Module gewissermaßen als Tauschobjekte bzw. käufliche Bildungswaren fungieren und von Kunden, sprich von Studierenden, möglichst effizient erworben werden sollen (vgl. Stein 2009: 26; vgl. Pongratz 2013: 106). Der Sinn und Zweck von akademischen Bildungseinrichtungen ist nicht mehr die Bildung an sich. Studienabschlüsse und Forschungsvorhaben dienen inzwischen der Kommerzialisierung und Privatisierung von Wissen, der Erschaffung geistigen Eigentums, der Umwandlung von Bildungsprozessen in Eigentumsoperationen und der Produktion eines akademischen Bildungsabsolventen als einem in Rechnung stellbaren »Markenartikel« (vgl. Pongratz 2013: 126). Ein im Studium erlangter Erkenntnisgewinn darf nicht auf dem Altar eines »Neo-Ökonomismus« geopfert werden. Derrida beschwört in diesem Kontext nicht den Glauben an Diskurse, die ein Wissen nur zur Sprache bringen, sondern den Glauben an Diskurse, die das Ereignis, von dem sie sprechen, erst hervorbringen (vgl. 2015: 22).
Der aktuelle Zustand der Hochschullehre degradiert Studierende zunehmend zu Objekten des Profitstrebens und der beruflichen Verwertbarkeit. Dieser, inzwischen weit fortgeschrittenen Entwicklung, gilt es Einhalt zu gebieten. Die Fixierung auf berufliche Verwertbarkeit konterkariert das Recht auf Bildung ebenso wie die mangelnde wirtschaftliche Absicherung der Studierenden und der sich daraus ergebende Druck. Bildung ist ein Menschenrecht, ebenso wie die freie Entwicklung der Persönlichkeit gemäß eigenen Neigungen und Interessen. Sie darf nie wieder von Parteibüchern oder aktuell vom Besitz eines Impfbuches abhängig gemacht werden und muss immer Allen offenstehen. Das uneingeschränkte, inklusive Recht auf Bildung muss wieder hergestellt werden – nicht in ferner Zukunft, sondern sofort und ohne Berücksichtigung politischer Einstellungen oder gesundheitlicher Einschränkungen.
Quellen
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[1] „Der Bologna-Prozess ist ein grundlegender Reformprozess im europäischen Hochschulwesen. Kernziel der 1999 von 29 europäischen Staaten unterzeichneten Bologna-Erklärung (mittlerweile beteiligen sich 48 europäische Länder und die Europäische Kommission) war, innerhalb von zehn Jahren einen Europäischen Hochschulraum zu schaffen, in dem die Mobilität von Studierenden, Lehrenden und Forschenden sowie des wissenschaftlichen Personals im Rahmen qualitätsgesicherter, transparenter und vergleichbarer Studienangebote unter Anerkennung der erbrachten Studienleistung möglich ist.“ [verfügbar unter: https://www.oesterreich.gv.at/themen/bildung_und_neue_medien/universitaet/Seite.160125.html [10.01.2022]
[2] vgl.: https://studentenstehenauf.eu/blog/forderungen-und-werte [04.01.2021]
[3] Bachelor-Master, im Gegensatz zum bisherigen Diplomabschluss
[4] Pörksen hat in seinen Ausführungen die Begrifflichkeit der »Plastikwörter« geprägt (vgl. 1988).
[5] Mit ‚Bulimie-Lernen‘ wird eine Lernform beschrieben, bei der eine möglichst große Stoffmenge kurz vor einer Prüfung in sich »hineingefressen« wird, um sie dann in der Prüfungsphase wieder »auskotzen« zu können. Anschließend kann der Lernstoff getrost wieder vergessen werden. Eine Wissensvertiefung und Auseinandersetzung mit dem Lernstoff findet dabei nicht statt.
[6] Als Taylorismus wird das vom US-Amerikaner Frederick Winslow Taylor (1856-1915) begründete Prinzip der Prozesssteuerung von Arbeitsabläufen bezeichnet. Der Arbeitsprozess wird dabei in minimalisierte Aufgaben und Anforderungen zersplittert, die leicht zu kontrollieren bzw. zu optimieren sind.