Zum Inhalt springen
Startseite » Beiträge » Andre Zhok – Die Blase

Andre Zhok – Die Blase

    Im ital. Original verfügbar unter: https://www.lantidiplomatico.it/dettnews-andrea_zhok__la_bolla/39602_48286/ [23.01.2023] (Netzfund)

    Das Hauptargument Immanuel Kants in Bezug auf die moralische Notwendigkeit nicht zu lügen war, dass die Lüge keine durchhaltbare Praxis sei, dass lügen keine verallgemeinerbare Maxime darstellt dergestalt, dass eine Welt, in der alle lügen würden, eine wäre, in der das Wort, der Gedanke und das Gesetz jeden Wert verloren hätten.

    Heute sind wir in die, von dieser kantischen Überlegung vorweggenommenen Welt eingetaucht. Heute treiben die Fabio Fazis und Michela Murgias, die Concitas und Parenzos sowie ein ganzer fruchtbarer Wald von Wiederholern mit Variationen von „Sag es mit Deinen Worten“, von dem, was den Machthabern gefällt, auf den großen Medien, den Vehikeln der Weltanschauung, die wir alle gehalten sind gemein zu haben, ihr Unwesen. Man braucht nicht schlecht darüber zu denken und anzunehmen, dass diese unüberschaubare Jüngerschar von Wiederholern mit Variationen vulgärerweise für jede Lüge ein Honorar erhielten. Nichts dergleichen. Es handelt sich um Subjekte, deren einziges menschliches Talent darin besteht, sich unsterblich in die Ideen desjenigen zu verlieben, der sie bezahlen kann. Aber so, durch Zufall, spontan, dass sie einer zweiten Natur gleichkommen.

    Was die freie Prärie des Netzes betrifft reicht es, um ihre heutige Funktionsweise zu verstehen, einen Blick auf die Twitter Files zu werfen, die ein unvorhergesehener Besitzerwechsel eines Sozialen Mediums durchsickern ließ. Direkte Befehlsketten führen von den US-amerikanischen Geheimdiensten zu den Verdunkelungsoperationen und zu manipulativer Auswahl auf den sozialen Medien. Die großen sozialen Netzwerke sind eine Thunfischfalle, in die man zuerst Millionen von Nutzern gratis hinein lockte, wie in ein Spielzeugparadies, mit der Illusion, dass eine neue Form wirklicher Demokratie Gestalt annähme, nur um das Netz dann zu schließen und die Thunfische in die vorgesehenen Dosen zu führen. (Mit dem Applaus der Schwachköpfe im Endstadium, „sie seien private Unternehmen, sie dürfen machen was sie wollen“).

    Aber von den austauschbaren und des Vergessens würdigen Protagonisten dieser mit Feuereifer vorgebrachten Lügen abgesehen, ist es das systemische Ergebnis, dem man sich stellen muss, das genau das ist, was oben vorweggenommenen wurde: wir leben alle in einer Blase, einer unwirklichen und entwirklichten Welt, die die einzige ist, die ich und mein Nachbar wirklich gemeinsam haben, und sich einfach zwischen unzuverlässig und absichtlich manipuliert aufteilt. Was weiß „man“? Worüber kann man gemeinsam reden, über was können wir mit den anderen Bürgern politisch zanken und debattieren, wenn nicht über diese fiktive Welt, die nach dem Durchlauf langer Filterketten modelliert wurde, die auf irgendeinem Bildschirm pfannenfertig daheim ankommt?

    Gewiss existiert die Möglichkeit des Kampfes einer Minderheit, die sich verausgabt, um Unstimmigkeiten zu finden, die gelegentlichen Fehler und Unvollkommenheiten eines Systems auszunutzen, das, wie alle allmächtigen Systeme, dazu neigt nachlässig zu werden. Aber die simple Wahrheit ist, dass diese Art von Kampf Energie, Intelligenz, Mut, Widerstandsfähigkeit gegen Isolierung und Frustration braucht, alles Qualitäten, die nur zur Ausstattung kleiner Minderheiten gehören und immer gehören werden.

    Das Hauptergebnis der Konstruktion eines dauerhaften Lügengebäudes ist nicht so sehr die eiserne ideologische Überzeugung der Mehrheit, sondern dass die Wirklichkeit (was man als Wirklichkeit durchgehen ließ) in Unglaubwürdigkeit fiel. Zieht man die Minderheit der Kombattanten ab, teilt sich die Bevölkerung, die dieser Ludwig-van-Beethoven-Behandlung in king-size unterzogen wurde, ungefähr in zwei große Gruppen. Auf der einen Seite gibt es die wütenden Konformisten, die neuen Spießer des politisch Korrekten, die phobischen Progressiven, wohlmeinenden Militanten, die, vielleicht weil sie die Zerbrechlichkeit ihrer Welt der offiziellen Glaubenssätze wahrnehmen, sich daran heftig festklammern und danach trachten, jeden zu entwerten, zu diskreditieren und zu zerreißen, der sich ihnen auch nur marginal widersetzt. Um auf eine alte Kategorisierung Umberto Ecos zurückzugreifen, sind diese zur gleichen Zeit apokalyptisch und eingehegt: Sie sind vollständig in das System integriert und unterstützen es mit der apokalyptischen Wildheit eines religiösen Eiferers. Es sind Menschen, die sich scheinbar schon den Mikrochip der permanenten moralischen Empörung in ihrer Hirnrinde verankert haben, und ihn strikt nur nach dem Katalog ihrer Dienstherren anwenden. Diese „Wächter der Illusion“ spüren auf einer gewissen Ebene, dass es sich um eine Fiktion handelt, aber es ist gerade nur die Fiktion, die ihnen Trost, Halt sowie Geld gibt, und so wie für eine Zecke die Welt dort endet, wo sie sich einnisten und Blut saugen kann, so legen diese sich auf ihre ökologische Nische fest, die ihnen erlaubt, ihr Dasein von der Wiege bis zur Bahre ohne viel Kopfschmerzen zu fristen.

    Auf der anderen Seite existiert die große skeptische Masse, die genug verstanden hat, um nicht mehr zu glauben, was das System vorgibt, oder nur mit halbem Hirn daran zu glauben, die aber keine Energie, Vorbereitung oder den Mut hat, einen anderen Zugang zur Wirklichkeit zu erhalten. Sie stellen den größten Sieg des Systems dar, das ihnen jegliche potentielle Gefährlichkeit nahm, indem es aus ihnen hoffnungslos desillusionierte Skeptiker machte. In den neuen Generationen hat dieser Sieg beinahe totalen Charakter angenommen: Eingeschlossen in kleine Markenwelten prêt-à-porter, gelingt es dem wachsten Teil der Jugend nur noch fest zu glauben, dass man nichts mehr Glauben schenken kann und an nichts mehr glauben kann (der weniger wache Teil träumt von fluiden, ökologisch nachhaltigen Einhörnern). Wir schwimmen in einem bunt bemalten, im freien Fall befindlichen Goldfischglas und spekulieren darauf, dass wir nie auf dem Boden aufschlagen.

    Aber die Wirklichkeit hört nicht auf zu existieren, weil sie fortgeschafft wurde. Wie es einfach immer in der Geschichte kam, wenn man sich immer weiter und weiter von ihr entfernt, wird sie einst ihre Stimme hören lassen und damit das Rückgrat unserer Welt aus Filtern und Bildschirmen, aus Münzeinwurf-Eiferern und genervten Solipsisten zerschlagen. Jedoch sollten wir uns keiner Illusion hingeben. Keine Erlösung, keine tröstliche Erleuchtung erwartet uns. Selten gab es Epochen, in denen die Wahrheit versuchte sich wie eine Botschaft (eine „gute Nachricht“) zu verbreiten, sondern gewöhnlich macht sie sich Raum in ihrer ursprünglichen und primitiven Form als schlichte Katastrophe. (Außerdem müsst ihr auch für die gute Nachricht den Kollaps eines Imperiums erwarten, damit sie sich verbreiten kann).

    ANDREA ZHOK
    Professor für Moralphilosophie an der Universität Mailand
    [Die Übersetzung wurde redaktionell bearbeitet]

    Du interessierst dich fürs Thema. Nimm Kontakt zu uns auf.