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Pariser Kommune

    – vor 150 Jahren die 1. sozialistische Revolution.

    Vortrag von Bernd Kupper/FL Berlin, 29.1.2022.

    Vorbemerkung der Redaktion: Diesen Vortrag veröffentlichen wir am Vorabend des Jubiläums der Commune de Paris, die morgen vor 151 Jahren ihren Anfang fand und seither viele Enden und keines.

    Literatur:

    • Lissagaray: Geschichte der Commune von 1871 (Suhrkamp,1. Auflage 1971), im Folgenden abgekürzt: L:Seitenzahl
    • Jean Villain: Die großen 72 Tage, ein Report über die Pariser Kommune (Verlag Volk und Welt, 2. Auflage 1975), im Folgenden abgekürzt: V:Seitenzahl
    • Michail Maschkin: Die Pariser Kommune 1871 (Dietz-Verlag 1982), im Folgenden abgekürzt: M:Seitenzahl
    • Karl Marx: Bürgerkrieg in Frankreich (MEW 17), im Folgenden abgekürzt: MEW: Band /Seitenzahl
    • Jeanne und Kurt Stern: Schauplatz Paris (Verlag Neues Leben 1972), im Folgenden abgekürzt: K+S:Seitenzahl

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    Vortrag:

    Lissagaray wird uns im Folgenden lebendige Einblicke in die 72 Tage der Pariser Kommune geben. Und das nicht immer schmeichelhaft. – Es ist daher anzumerken, dass er in den obersten Reihen neben dem letzten Kriegsminister Delescluze bis zuletzt auch auf Barrikaden kämpfte und von Karl Marx in London aufgefordert wurde, sein Buch zu schreiben.

    Mein Vorwort:

    Eine große Mehrheit der Bevölkerung weiß, der Kapitalismus hat seine finale Existenzkrise erreicht.

    Fragt man nach, was die Alternative ist, dann: Alles gescheitert! SU gescheitert, DDR gescheitert, Kuba scheitert immer noch …, ach, China …

    Oder wir hören utopische Neuentwürfe: …, davon gibt es jede Menge.

    Doch was wissen wir von der 1. sozialistischen Revolution, März bis Mai 1871 in Paris, davon, wie die Menschen nur auf dem bittersten Weg der Enttäuschung ihre Illusionen über den Staat abgeworfen und ihre eigenen Fundamente der Macht nur in Kämpfen schaffen konnten?

    Fahren wir nach Paris: Auf dem Montmartre, letzter Kampfort, sehen wir die Basilika Sacré-Cœur.

    Von 1873 an 40 Jahre lang als Sühne-Symbol gebaut, soll sie Zeichen der Reue sein, sollten wir die Herrschaftsordnung in Frage stellen. Unter ihr die Erde, die von den letzten Kommunarden mit ihrem Blut getränkt worden war, ist sie uns doch eher Symbol derjenigen verbrecherischen Lüge, die tausende Tonnen braucht, um die Wahrheit über die Klassenherrschaft und ihre Brutalität zu unterdrücken.

    Wie die 1. proletarische Revolution entstand:

    Seit 1830 nimmt die industrielle Revolution Fahrt auf, es entstehen das Proletariat und die Großbourgeoisie.

    Das Kaiserreich von Napoleon III. dient vor allem der Großbourgeoisie gegen die Arbeiterklasse. Es ist, schreibt Marx, das Versprechen der Einheit aller Klassen unter dem “Trugbild des nationalen Ruhms” (MEW:17/336-338), und unter diesem Trugbild organisiert das Kaiserreich die Auspressung des Volkes.

    Das Elend ist umfassend:

    Im Bergbau steigen die Löhne über die 20 Jahre vor der Kommune (1852-70) um 3 Prozent, die Dividenden aber um 300 Prozent.

    Streiks werden nicht verhandelt, sondern mit Militär niedergeschlagen.

    (Kasernen an den potentiellen Streik-Orten errichtet: Ricamarie, Aubain, Le Creusot / V:36)

    In Paris leben im Jahr 1870 ca. 1,8 Mio. Menschen, darunter 417.000 Arbeiter, 101.000 Unternehmer.

    Und wie leben dort die Arbeiterfamilien? – Verschuldung ist für die Hälfte etwas Allgemeines, die Matratze der Familie ist das häufigste Pfandobjekt. (Historiker Alistair Horne / V:29)

    Unruhen, Aufstände sind an der Tagesordnung.

    Und der Staat? Korruption und Prasserei sind an der Tagesordnung. Nicht nur das Volk, auch der Staat ist in einer existentiellen Krise. Da gibt es ein bewährtes Rezept? Ja, Napoleon III. pariert seinen nahenden Sturz mit …. Krieg! (von Bismarck mit der Emser Depesche an den frz. Botschafter provoziert)

    (F. Mehring: Nicht die deutsche Einheit, sondern die Verpreußung Deutschlands ist das Ergebnis.)

    Und dieser Krieg wird zur Geburtswehe der Revolution.

    Die französische Armee ist ein Desaster wie der ganze parasitäre Staat.

    Am 1.9.1870 stecken Bazain bei Metz und Mac Mahon bei Sedan mit der französischen Armee komplett in der Kesselfalle von Moltke – Napoleon hat keine Wahl mehr, er überreicht dem preußischen König seinen Degen, die berühmte Niederlage bei Sedan. (General Wimpffen verdarb die letzte Chance.)

    Als das in Paris am 3.9.1870 bekannt wird, dringt die Nationalgarde voller Empörung ins Palais Bourbon und proklamiert die Republik.

    Zehntausende versammeln sich am 4.9.1870 vor dem Stadthaus. Da verliest Favre (Linksliberaler), einer aus dem bonapartistischen Parlament, ad hoc Namen einer neuen Regierung, nennt sie “Regierung der Nationalen Verteidigung” und … die Masse schluckt es, akzeptiert die alten Schweißlecker des Bonapartismus als neue Regierung. Verteidigung statt Kapitulation, das versteht man sofort – und alle Parteien im Parlament, sogar Blanqui, der Anarchist, hinter dem die scheinbar radikalsten revolutionären Kräfte stehen, alle Oppositionellen kippen um, vereinen sich im Ruf: “Alles für der Regierung der Nationalen Verteidigung!” (L:18,30)

    (Der Preuße von damals heißt heute nicht nur in Paris Corona-Virus.)

    Aber: Trochu (Gouverneur von Paris) sagt noch am Tag der Regierungsbildung vor den Bürgermeistern (Maires): “Paris gegen eine preußische Belagerung zu halten wäre eine Torheit, wenn auch eine heroische.” (MEW:17/320; vgl. V:55)

    Das Volk feiert derweil seinen “Sieg”, lässt Stadthaus, Polizei samt Akten unberührt, schluckt die Umbenennung der Municipalgarde in “Republikanische Garde” und glaubt an seine Republik.

    Aber die Herren der Republik denken schon an Kapitulation vor den Preußen.

    Warum? – Der Krieg wurde höchst unrentabel, die Bourgeoisie macht keine Profite mehr, und mit jedem Tag steigen die Kosten, die man auf die Massen in ihrem Elend nicht mehr abwälzen kann (V:70), es sei denn … man riskiert eine – Revolution !

      (Bei Beginn der preußischen Blockade explodieren die Preise / V:64-68)

    Denn die Not im Volk ist absolut: In Restaurants gibt es Fleisch aus dem Zoo, Rattenfleisch in Läden (V:68). (Ein neuer Beruf ist entstanden: “Stehkraft”, d. h. Schlangestehen für Auftraggeber.)

    Der Staat ist hoch verschuldet, die 16 Milliarden Schulden sind durch den Krieg auf 32 Milliarden Franc angewachsen. (Vgl. etwa V:80-86)

    Und ganz Paris ruft auch noch angesichts der Verluste an den Fronten und der preußischen Belagerung nach Waffen! Das Volk erzwingt die Bildung neuer Bataillone der Nationalgarde, denen strömen auch noch Arbeiter und Handwerker zu Tausenden zu! (V:61: Trochu sieht es zähneknirschend)

    D A S        I S T:

    Die Geburtsstunde der Volksmiliz, Monate vor der Revolution !

    (Nationalgarde: Von ehemals 24.000 sind sie dann im Krieg von 90.000 auf 350.000 Soldaten angewachsen.)

    Wie die neuen Waffen bezahlen? Durch eine Volkssammlung: 400 Kanonen etwa

    (insgesamt 1100 Kanonen, Haubitzen, Mörser, Mitrailleusen / L:215) werden aus Spenden gegossen, und die sind nun Eigentum der Nationalgarde:

    Die Nationalgarde wird eine 2. Macht in Paris (wie in Russland 1917). Die “Regierung der Nationalen Verteidigung” muss diese zweite Macht im Land von Tag zu Tag mehr fürchten.

    Denn schon häufen sich gefährlichste Proteste gegen die schwachen, in den Verrat einschwenkenden Generäle und Politiker.

    Bazain führt die Hälfte der noch bestehenden Armee am 27.10.1870 in die Kapitulation, der Parlamentarier Thiers beginnt heimliche Kapitulationsgespräche mit Bismarck.

    Am 31.10.1870 kommt es zu einem Sturm auf das Stadthaus. Die Regierung verspricht, um ihre Köpfe zu retten, Wahlen zur Kommune, macht aber später daraus einfach ein Plebiszit:

    “Für die Regierung der Nationalen Verteidigung oder für Anarchie?”

    Eine Mehrheit entscheidet sich … für die Regierung und – für Verteidigung.

    Was ist eine “Verschwörung”, nur eine Theorie?

    Die Preußen bombardieren Paris und Trochu tut nichts (L:38) (auf Wikipedia finden wir über ihn: Trochu. machte sich verdient um die Organisation der Verteidigungsarmee. – Wir werden gleich sehen, was daran wahr ist …)

    Was er tut: Trochu schickt die Soldaten in schwerste Niederlagen.

    Und Jules Ferry assistiert mit den Worten: Die Nationalgarde werde keine Ruhe geben, ehe nicht 10.000 Nationalgardisten ins Gras gebissen hätten. (V:81)

    Beispiele:

    30.11.1870 Sturm auf Champigny ohne Ambulanzen, Zelte, Decken (Trochu: Decken bleiben zu Hause!) 

    8.000 Tote und Verwundete (V:79)

    Doch der Glaube an die Regierung der Nationalen Verteidigung ist ungebrochen.

    21.12.1870 Le Bourget: General Thomas schickt die Mobilgarde zum Angriff ohne Geschütze.

    Der Glaube an die Regierung der Nationalen Verteidigung ist ungebrochen.

    Das Plateau von Avron wird ohne Artillerie vor 60 preußischen Geschützen besetzt und 2 Tage gehalten, Hunderte sterben. Da sieht Trochu, das Plateau hat keinen strategischen Wert, und befiehlt Räumung. (V:80-81)

    Der Glaube an die Regierung der Nationalen Verteidigung ist … ?

    Am 6.1.1871 erscheint ein Plakat vom Comité der 20 Stadtbezirke (von Arbeitern, Beamten, Literaten nach dem 4.9. gegründet zur Überwachung der Maires, Bürgermeister / L:20):

    “500.000 gegen 200.000 Preußen … Zwecklose Ausfälle, mörderische Kämpfe ohne Resultat … die Regierung tötet uns!” (V:80; L:37) Trochu hält dagegen: Die Regierung wird nie kapitulieren!

    Der Glaube an die Regierung

    Die Masse hält nur noch die Augen zu. (L:37)

    Doch am 22.1.1871 ziehen Revolutionäre und Nationalgardisten bewaffnet vor das Stadthaus.

    (Die Regierung ist in den Louvre geflüchtet; am Ende Schießerei, 80 Tote und Verwundete / V:90-92)

    Die Regierung lässt schießen und beginnt mit einer Verhaftungswelle, dem Verbot der Roten Diskussions-Klubs und vieler Zeitungen. (MEW:17/709, Anmerkung 229)

    Sie brandmarkt ihre Gegner über alle anderen Zeitungen als “Verschwörer” (L:102) und organisiert hinter dem Rücken des Volkes die Kapitulation vor Preußen.

    Am 27.1.1871 ist es so weit: Favre darf mit Bismarck eine Kapitulation verhandeln:

    Paris ist zu übergeben (L:44), 200 Millionen kostet der Friedensvertrag.

    Paris erfährt es und ist … wie gelähmt. (150.000 Tote und 150.000. verwundete französische Soldaten, 4800 Kinder, Kranke und Alte sterben; 28.000 Tote und 88.000 verwundete preußische Soldaten / V:92)

    Bezahlt diesen Vertrag die französische Elite? Die Antwort darauf wird die Pflichtaufgabe der Regierung sein: Also ein ausgeplündertes Volk noch mal plündern! Aber dieses Volk ist nun durch den Krieg bewaffnet!

    D A S             I S T:

    Die Lösung der Gewaltfrage noch vor der Revolution !

    (Vgl.: H. Arendt: Gewalt u. Macht seien Gegensätze, Revolution vollziehe sich ohne Gewalt.)

    (“Paris in Waffen, das war die Revolution in Waffen!” / MEW:17/319)

    Die Regierung muss für ihre Aufgabe also Paris entwaffnen und niederwerfen. Favre bietet das Bismarck an, doch der lehnt dankend ab. (V:95)

    (Thiers bringt den Bürgerkrieg gegen Paris auf den Weg.)

    (Marx nennt das die “Rebellion der Sklavenhalter” / MEW:17/327f.)

    (Verlegung der Nationalversammlung nach Versailles (= Provokation / MEW:17/328, Anmerkung 1)

    (Man bestimmt d`Aurelles zum Befehlshaber der Nationalgarde, diese selbst fordert aber Garibaldi als Befehlshaber / L:69)

    Was ist die Lösung? – Eine Nationalgarde ohne Artillerie! Das hat sich in den Zermürbungs-Schlachten ja bestens bewährt. Also hat Thiers einen Plan:

    Am 18.3.1871 versucht die Armee, 250 von 400 Kanonen der Nationalgarde aus Paris herauszuholen. (die meisten vom Montmartre). Wir erinnern uns: Diese Kanonen waren vom Volk gespendet.

    Auf Wikipedia lesen wir heute: Die 400 Kanonen habe die Nationalgarde dem Staat gestohlen (im Gegensatz zu L:94, MEW:17/329).

    Aber der Entwaffnungsplan von Thiers ist Stümperei, die militärischen Kräfte werden nicht berechnet, Bürgermeister und treue Bataillone der Nationalgarde nicht informiert … (L:78). Und so nimmt die Sache ihren Lauf:

    18.3.1871, 3:00 Uhr: die Armee hat bis zu den Kanonen freien Weg. Doch dann kommen die Pferde nicht, man versucht es per Soldat. Paris aber erwacht – Frauen gehen voran, diskutieren (wie auch Nationalgardisten) vor den Kanonen mit den Soldaten über Recht, Moral, Zukunft und Liebe.

    18.3.1871, mittags: immer mehr Soldaten laufen über, schließlich nahezu alle. Die Offiziere fliehen. General Thomas, der seinen Soldaten die Exekution androht, wenn sie nicht auf Unbewaffnete sofort schießen, wird wie auch der verhasste General Lecomt von den eigenen Soldaten festgenommen und später von diesen erschossen (L:84).

    (General Thomas weint und fleht um seiner Kinder willen. – So war er nicht, als er Tausende Soldaten mit seiner Kriegsführung “gegen” die Preußen in den Tod schickte: 21.12.1870: Angriff auf Le Bourget ohne Geschütze / V:79)

    18.3.1871, nachts: Paris erlebt ein Freudenfest des Sieges. Aber die dann folgende nächtliche Ruhe über Paris ist eine tödliche – die Regierung kann mit allen Regimentern unbehelligt nach Versailles fliehen. Dabei sind diese Leute völlig kopflos, es wäre (wie am 4.9.1870 im Stadthaus: Vorwürfe unter den Internationalen, diese Chance nicht genutzt zu haben) ein Leichtes gewesen, sie festzunehmen: Thiers z.B. vergisst Kammerdiener und Frau in Paris. (V:142)

    Die neue Gesellschaft ohne Thiers, Kammerdiener und Frau

    Lissagaray beschreibt den nächsten Morgen: Es wimmelt in den Straßen, “die rote Fahne weht auf dem Stadthaus. Mit dem Morgennebel ist auch die Armee, die Regierung, die Administration verdunstet …” (L:87)

    An diesem Morgen spricht das ZK der Nationalgarde zu Paris in einem Aufruf: “Ihr habt uns beauftragt, die Verteidigung von Paris ins Werk zu setzen […]. In diesem Augenblick geht unser Mandat zu Ende. Nehmt sogleich eure Communalwahlen vor …” (L:91,101; abweichend: V:146)

    Warum will das ZK der Nationalgarde die Macht so schnell an das Volk loswerden? (L:88,101)

    Was ist denn die Macht des Volkes, wenn nicht dieses ZK? Keiner vom ZK war vor dem 18.3.1871 öffentlich bekannt, es sind Namenlose, mitten aus dem Volk! Sie stehen aber von allen Seiten so sehr unter Druck, dass sie nicht sehen – sie sind die Vertretung, sie sind die Macht des Volkes. 90 Räte, mehr als später der Rat der Kommune mit 79 haben wird! Und Marx kritisierte drei Monate später, dass das ZK die Macht abgibt.

    (MEW:17/330: das ZK war die provisorische Regierung der Arbeiterrevolution   vom 18.3.1871. Im Gegensatz dazu schreibt Lissagaray: Warum schaffte der Rat das ZK nicht ab? / L:156, 214)

    Die Bolschewiki entscheiden 36 Jahre später: “Alle Macht den Sowjets”. Hätte es dabei bleiben können, ohne Stalinismus?

    (Die Konstitutionelle Versammlung., in der die Sozialrevolutionäre die Mehrheit haben, tritt im Januar zusammen, wird aber von den Bolschewiki am 2.Tag geschlossen – Begründung: Die Sozialrevolutionäre haben sich nach der Wahl gespalten, es wäre eine Entmachtung der Sowjets, die der politischen Situation nicht entspräche; die Bolschewiki hatten eine Mehrheit in den Städten, die Sozialrevolutionäre auf dem Land.)

    ”Wahlen” sind eine bürgerliche Sache, wenn die Macht schon in der Hand von Räten ist!

    (Aber der Grund für diese Vorsicht waren auch Vorbehalte gegenüber dem ZK seitens anderer Organisationen: Comité der 20 Arrondissements, Internationale – unter diesem Druck kommt das ZK nicht auf militärisch bedeutende Fragen! / V:146)

    Das Volk in Selbstherrschaft? Alle Liberalen würden lachen! Das ist aber keine pure Idee, sondern praktische Erfahrung der Pariser Kommunarden:

    Das Volk hatte im Angesicht seines Elends schon immer das Vorbild der Kommune von 1792 (10.8.1792). Damals rekrutierte sich die Regierung wie das ZK selbst aus Namenlosen.

    U n d:

    • Während der preußischen Belagerung bildeten sich schon Municipalräte (Bezirksräte, die allerdings Justiz, Administration, Polizei noch nicht regeln konnten).
    • Die Wachsamkeitskomitees der 20 Stadtbezirke waren seit dem 4.9.1870 aktiv. (Comité der 20 Arrondissements / V:54)
    • Es gab Unterkomitees gegen Entwaffnung. (L:75)
    • Nicht zuletzt: Die Nationalgarde hatte ihre großen Delegiertenkonferenzen mit einem gewählten ZK aus 90 Bevollmächtigten.

    (Delegiertenkonferenz der Nationalgarde in den Vauxhall (L:63) & ZK: 1 Rat auf 20.000 Einwohner & 1 Rat je Fraktion von 10.000 = 90 Räte)

    D A S             I S T:

    Die Geburt des neuen Staates aus dem Uterus der Revolution !

    Die Struktur der Pariser Kommune ist weder vom Himmel gefallen noch kam sie aus einem schlauen Buch. Sie wurde in den Kämpfen geboren.

    “Statt des Vertreters“ – schreibt Lissagaray –, “der den Wähler hintergehen kann, sollte der Bevollmächtigte eingesetzt werden”. (L:89; vgl. L:158: hier sich Pyat für die Abschaffung des Parlamentarismus ausgesprochen, und Lissagaray kritisiert ihn dafür.)

    (Gewaltenteilung? In Wahrheit sind alle Teile von der Regierung für das Klasseninteresse eingerichtet – das erfahren wir jetzt in der existentiellen Krise des Staates, es kostet ihn nichts, alle Teile in ihrer vollsten “Unabhängigkeit” gegen uns zu wenden, der falsche Schein der Gewaltenteilung zerbröselt in diesen Tagen.)

    Der Kampf um die Hegemonie

    Man bereitet also Wahlen vor, statt die Tore zu schließen, durch die der künftige Tod-Feind täglich flieht. (L:90)

    (Insgesamt verlassen seit September 1870 etwa 300.000 Bürger Paris.)

    Die Thiers-Regierung befiehlt alle Beamten nach Versailles, droht mit Entlassung. (L:212) Thiers will so Paris unregierbar machen.

    In dieser Situation zeigt sich eine ungeahnte Energie im Volk. Die leeren Ämter werden im Nu arbeitsfähig gemacht, mit nur 30 Prozent der Besetzung! Paris lebt! (Beispielsweise Post: V:150-1;L:159)

    D A S            I S T :

    Die Erfindung der unbürokratischen Verwaltung des Volkes durch das Volk!

    Die Selbstverwaltung.

    General Brunel gehört zu den wenigen, die die Gefahr aus Versailles erkennen, er schlägt dem ZK vor, die nach Versailles geflüchtete Regierung sofort zu verhaften. Das war zu diesem Zeitpunkt noch machbar. Er wird aber nicht erhört.

    (Auch einige Volkszeitungen nicht. – Eine verpasste Rettung für die Kommune? / V:147 und im Gegensatz dazu siehe L:122)

    Dann wählt das ZK auch noch zum Kommandanten der Nationalgarde Lullier, Marineoffizier, ein strahlender Rhetoriker, wenn er nicht besoffen ist! (V:146) … Der vergisst, am 19.3.1871 die verlassene Bastion vom Mont-Valerien zu besetzen, zwei Tage später hat sie Versailles zurück, eine Schlüsselposition im Bürgerkrieg. (L:105)

    (Rat und ZK verheimlichen später diesen Verlust, was viele Nationalgardisten das Leben kosten wird (L:164ff.): 23.3.1871: Lullier lässt noch ein Regiment nach Versailles fliehen; Lullier wird endlich eingesperrt.)

    In Versailles ist man immer noch kopflos. Unmittelbar vor dem 18.3.1871 (13. bis 17.4.1871) werden 150.000 Wechsel fällig – viele Kleinunternehmer gehen sofort Bankrott (MEW:17/708, Anmerkung 222). Die Regierung der Nationalen Verteidigung” besteht aber weiter auf der Zahlung aller Wechsel und verliert so das Gros der Krämer, Handwerker und kleinen Geschäftsleute. (V:162; L:73)

    (Schauen wir auf die Mittelstandsplünderung heute.)

    Auch der Mietennachlass aus der Blockadezeit ist nur gestundet. 300.000 Arbeiter mit Familie würden ab Zahltag obdachlos (V:108). (Neunzehn-Zwanzigstel der Pariser waren insolvent! / V:179)

    Da kommt wie Blitz mit Donner am 21.3.1871 das ZK-Dekret: Die fälligen Wechsel werden um einen Monat vertagt, ein Kündigungsverbot ergeht an die Hausbesitzer. “Mit 3 Zeilen“ – schreibt Lissagaray – “schuf das ZK Gerechtigkeit, schlug Versailles und eroberte Paris” (vgl. auch L:73: dagegen der Regierungsbeschluss).

      D A S          I S T:

    Die Geburtsstunde der sozialistischen Sozialpolitik!

    Sofort begann die Hetze aus Versailles: Die öffentlichen Kassen und das Privateigentum seien zur Plünderung frei gegeben. (V:154)

    Ja, schreibt Lissagaray, genau das hätte man tun müssen!

    (Regierung und Opposition organisieren vom 21.3. bis 22.3.1871 Straßenkrawalle um das Börsenviertel, es gibt tote Nationalgardisten, die Täter werden nicht verfolgt.)

    Einen Tag vor der Wahl erscheint noch ein Aufruf vom ZK:

    “Bürger, vergeßt nicht, dass die Männer, die Euch am besten dienen werden, jene sind, die Ihr aus Eurer Mitte wählt, die Euer Leben teilen und denselben Leiden ausgesetzt sind wie Ihr. Misstraut … den Ehrgeizigen … sie kennen nur ihre eigenen Interessen … Misstraut den … Schwätzern”. (V:168)

    Welche Größe des Charakters steckt in diesen einfachen Soldaten! – Sie schreiben weiter: “Da wo unser persönliches Interesse anfängt, endet auch unser Mandat“. (L:101)

    Diese guten Worte sind leider auch eine unheilvolle Prophezeiung.

    (Das ZK wird von eitlen Leuten und Schwärmern nach einer weiteren Wahl okkupiert; es gibt dann nur noch 40 statt 90 Räte / L:215.)

    Wahlen am 26.3.1871 – Wahlurnen sind keine Assekuranz

    Die Kandidatenlisten sind an Hauswände geklebte Zettel, nur wenige sind gedruckt. Von diesen Listen wählt man nach Sympathie (L:152).

    229 000 Stimmen werden von 485.000 Wahlberechtigten abgegeben.

    (Mehr als für die Wahl zur Nationalversammlung)

    Und es ist ein friedlicher Tag, keine Polizei patrouilliert vor Wahllokalen.

    Das Ergebnis ist ein Querschnitt durch die Bevölkerung: 27 Händler, Kleinunternehmer und Beamte, 7 Angestellte, 30 Freiberufler (Intellektuelle) und nur 25 Arbeiter = die Mehrheit von ihnen ist aber jakobinisch-republikanisch.

    Von 79 gewählten Räten sind zwei Drittel Kleinbürger, vom ZK der Nationalgarde nur 6, Internationale nur 13 (L:152). (Frankel aus Österreich-Ungarn ist einziger “Marxist” / V:173.)

    Lissagaray: Man stellt die Kommune als Arbeiterregierung vor, das ist nicht wahr (L:151) … Die Kandidaten wurden nicht ernsthaft ausgewählt (L:151) – d. h. die Wahlen mischten nur alle politischen Richtungen als einfache Manifestation … ”Es kamen Männer, deren politische Fähigkeiten die Wähler nicht geprüft hatten”. (L:153) Ist der Kommune-Rat gemessen an seiner Politik eine Arbeiterregierung? Ja und nein, wir werden sehen.

    Trotz alledem, Lissagaray schreibt über diesen Sonntag, den 26. März 1871, er “war ein Freudentag … Wer noch den Monat zuvor verzweifelte, strahlte jetzt von Begeisterung … man drückte sich die Hände, ohne sich zu kennen … Kinder desselben Willens, desselben Glaubens, derselben Liebe” (L:123).

    “In solchen Augenblicken ändert sich ein Volk von Grund aus …” (L:126).

    200.000 kommen zur Verkündung der Wahlergebnisse vor das Stadthaus, und als die von Rangier verkündet werden, glaubt man: Diese 200.000 haben alle Ecstasy genommen: Tänze, Sprechchöre, Musik – ein Volksfest. Da hat kein Redner mehr Platz, 200.000 sind gemeinsam im Rausch. (L:125)

    Der Rat der Kommune

    Die 79 “Beauftragten” arbeiten für Arbeiterlohn, so Marx und Lenin.

    Könnte man so sagen, denn sie haben 6 bis 20 Mal weniger als ihre Vorgänger. Doch ihr tatsächlicher Lohn war dreimal höher als der eines gut bezahlten Arbeiters – Wir vergleichen: tägliches Einkommen: Nationalgardist 1,5 Franc / Lehrer 5 Franc / einfacher Bahn-Arbeiter 1,5 Franc / ein bestbezahlter Arbeiter 7 Franc / Rat 15 Franc.

    Das Mandat war jederzeit abberufbar.

    (Diese Einschätzung stütz sich auf den Konflikt um Vermorel, der von Pyat als ein Spitzel bezichtigt wird und zurücktreten will, doch seine Wähler verlangen: Wir allein haben das Recht, Sie zurückzurufen / L:200.)

    Ein Rat stand in öffentlicher Rechenschaft, so Lenin – Lissagaray: Gleich zu Beginn seien die heimlichen Sitzungen beschlossen worden, der tödlichste Fehler (L:154f.). Erst durch die miese Stimmung in der Stadt war man 14 Tage später bereit, die Sitzungsprotokolle in einer eigenen Zeitung zu veröffentlichen (im “Official”).

    Es gab keine Gewaltenteilung mehr, sondern eine direkte Kontrolle der Exekutive über die Kommissionen der einzelnen Bereiche.

    Der Kommune-Rat war selbst die Regierung, es gab keine wie im Parlamentarismus abgesonderte Regierungsclique!

    D A S             I S T:

    Die Abschaffung der Regierungsclique durch direktes Mandat!

    (Und die Abschaffung des Parlamentarismus.)

    Die Dekrete der Kommune (L:124ff.,158,185)

    1. Dekret der Kommune: Ersetzung des stehenden Heeres durch das bewaffnete Volk (so MEW:17/338).

    D A S             I S T:

    Vollzug dessen, was das Volk in Gestalt seiner Nationalgarde erkämpft hat!

    2. Sitzung: Endgültiger Mietennachlass (für Okt.1870 – Juli 71 / vgl. Dekret vom ZK: Kündigungsverbot). Jedoch werden vom Rat Groß-Profiteure der preußischen Belagerung unter Industriellen und Politikern nicht ebenso bedacht.

    (Kritik von L:158 / Frankel, der österreichisch-ungarische Marxist, + Genossen haben das in einem Ergänzungsantrag versucht / V:178f.) (Sitzung am 28.3.1871)

    (Obszönes Beispiel: Ernest Picard, Innenminister der Republik, kooperiert mit seinem Bruder, nachdem er über die geplanten Niederlagen der französischen Armee informiert war, und macht an der Börse Kriegsgewinne / MEW:17/322.)

    Dieses Mietendekret folgt dem 1. Erlass vom ZK der Nationalgarde, als dieses noch an der Macht war:

    Zitat aus dem ZK-Dekret: “In Erwägung, dass der … Krieg, der … nur das Werk einer mächtigen Minderheit war …. und die Hilfsmittel des Handwerkers, Kaufmanns und Arbeiters völlig erschöpft hat …, verordnet das Zentralkomité [, dass] … sämtliche … fälligen Mieten, die die Summe von 250 Francs nicht übersteigen … zu erlassen [sind]“. (“… Mieten von 250 bis 800 Francs werden um zwei Drittel herabgesetzt …”) (V:177f.)

    Dieses Sozialdekret der Nationalgarde wird vom Rat der Kommune übernommen und noch einmal erlassen. (In einem weiteren Dekret werden alle verlassenen Wohnungen für Ausgebombte Ende April beschlagnahmt / V:180.)

    3. Dekret zur kostenfreien obligatorischen Schulpflicht für alle Kinder.

    4. Auch die Nachtarbeit in den Bäckereien, eine schleichende Zerstörung der Arbeitergesundheit, wird verboten (das Brot wurde beschlagnahmt, wenn Unternehmer das Dekret nicht einhielten).

    D A S             I S T:

    Vollzug dessen, was von den Bäckern vehement auf den Weg gebracht wurde!

    5. Die durch die Unternehmer verhängten Geldstrafen am Arbeitsplatz werden verboten, bei denen es sich um einen willkürlichen Lohnabzug zwecks Unterwerfung handelte.

    6. Man beschließt die Übergabe verlassener Betriebe an Arbeitergenossenschaften.. Diese Genossenschaften gibt es noch nicht, sie sind eher Idee. “Selbst wenn vieles nicht klar war”, lesen wir bei Lissagary, “so doch aber die Richtung! Die Revolution hat mehr getan als alle Bourgeois-Versammlungen seit 1789!” (L:126)

    7. Ein Dekret weist Pensionen für Familien Gefallener an. Wo die bürgerliche Regierung über die Frauen mit verlogener Sexualmoral hergefallen wäre, um jeden Sou an ihnen zu sparen, da erkannte die Kommune ohne lange Diskussion sogar illegitime Frauen der Gefallenen an – 600 Franc Pension jeder Frau, und ebenso 350 Franc für jedes eheliche oder nicht eheliche Kind.

    Ein Kollegium in jedem Bezirk entschied über die tatsächliche Beziehung einer Frau. (V:182) – Das vergleichen wir gern mit Herrn Schröders Hartz-Reform, Zahnbürsten in WCs zu suchen, um Geld den Armen zu sperren statt zu geben!

    “Mit diesen wenigen Worten“ – schreibt Lissagaray – “hat die Kommune für die Befreiung der Frau und ihre Würde mehr getan als alle Moralisten und Gesetzgeber der Vergangenheit.” (V:181)

    8. Ein Dekret gibt jedem verwundeten Föderierten eine Pension von 300 bis 2000 Franc. (V:181)

    9. Verbot des Verkaufs von Pfandsachen unter 20 Franc durch die Pfandhäuser. (L:210: Inmitten militärischer Desorganisation debattiert der Rat über diese Frage!)

    10. Alle finanziellen Barrieren vor den erhabenen Türen der Justiz wurden eingerissen, die Kosten übernahm der Staat.

    11. Man dekretiert auch die Trennung von Kirche und Staat. Das ist besonders wichtig für Schulen und Spitäler, wo Paffen samt Ordensschwestern ihre kaisertreue Demutsideologie verabreichen.

    Wir können Lissagaray also auch widersprechen: Der Rat der Kommune ist eine Arbeiterregierung – die wichtigsten Dekrete zeigen es. Jedoch sind die besten Dekrete

    V o l l z u g   d e s s e n,

    was das Volk selbst auf die Tagesordnung setzt!

    Madame Rolland schrieb zu dieser Frage 1791: “Nicht die Versammlung (1871 der Rat der Kommune / B.K.) hat die Revolution gemacht, sondern die Gewalt der Tatsachen und der öffentlichen Meinung. Solange die Nation in Tätigkeit blieb und diese öffentliche Meinung kraftvoll vorwärts getrieben hat, so lange hat die Versammlung Gutes und Großes geleistet. Von dem Augenblick an, wo sich die Nation durch ihre ersten Siege einlullen ließ und aufhörte, die Versammlung unablässig zu beeinflussen, fiel diese in die … Mittelmäßigkeit zurück  … die Gewöhnung an die autoritäre Gewalt und die Fortschritte der Korruption …” (aus: Briefe aus der Französischen Revolution. Ausgewählt, übersetzt und erläutert v. Gustav Landauer. [Da es davon diverse Ausgaben in verschiedenen Verlagen gibt: Der Auszug findet sich im etwa 15-seitigen Kapitel, das Madame Rollands Briefen gewidmet ist.]

    Was wäre der Rat ohne diese Kraft der Massen, denn, das wird uns Lissagaray noch beschreiben, der Rat häufte Fehler auf Fehler, nicht nur aus Unkenntnis.

    Trotz dieser beeindruckenden Ansätze mit Dekreten – zu den Nachwahlen für Gefallene und Ausgetretene (z. B. die Maires, die Radikalen u. a.) kommen am 16.4.1871 nur noch 30 Prozent der Wähler, obwohl Versailles seine todbringende Feindschaft seit dem 1.4.1871 durch Bombardierung der Stadt beweist.

    Viele Wähler sind zwar an den Fronten gebunden (L:197: Im 3. Arrondissement gibt es gar keine Stimmenabgabe), aber es ist auch eine Quittung des Volkes an seinen Rat.

    Warum?

    Administrative Versäumnisse und politische Fehler:

    Die Kommissionen werden kaum koordiniert und kontrolliert. Es gibt eine Menge Fehlbesetzungen (V:211; L: ”Schwächen” / 201). 9 Kommissionen müssen deshalb am 20.4.1871 personell ausgewechselt werden. (L:210)

    (V:185, 2.2: Villain stellt die Diskussionen als gründlich dar, Lissagaray dagegen kritisiert einen prinzipiellen Mangel an Orientierung.)

    Lissagaray nennt die Kommission für Arbeit und Handel von Leo Frankel, dem Marxisten aus Österreich-Ungarn, beispielhaft, alle anderen seien ohnmächtig. (L:224-227)

    Der Rat arbeitet im Dunst von persönlichen Sympathien. (L:201) Lissagaray berichtet aus eigener Erfahrung: “Um zum Dienst der Commune zugelassen zu werden, mußte man zu dieser oder jener Clique gehören”. (L:201)

    (Fähige Leute wurden von Ratsmitgliedern abgewiesen, welche glaubten, “Es lebe die Commune” heiße “Es lebe der Herr Rath”.)

    “[D]aneben erdrückende Unzulänglichkeit des Personals … Die Mitglieder des Rats beschwerten sich selbst, dass nichts vorwärts gehe”. (L:201)

    Es brechen auch immer wieder Konflikte zwischen Räten, Kommissionen, dem Rat und dem ZK der Nationalgarde aus. (Beispielsweise: das „Comité Artillerie“ gegen den Rat der Kommune / L:124.)

    Die Kommune sollte nach einem Dekret das Versammlungs- und Öffentlichkeitsrecht überwachen. Eine solche allgemeine Überwachung stellt für Lissagaray eine Verletzung von Grundrechten dar. (L:196)

    (So gibt z. B. auch der Demokratische Widerstand die Kundgebung vom 28.3.2020 nur beim Gesundheitsamt anstatt bei der Polizeibehörde bekannt.)

    Die Bank von Frankreich blieb unangetastet:

    Basley gehört der Internationale an (L:153), sieht sich als “sozialistischer”  Unternehmer, will die Klassen versöhnen. Er ist Erfolgsmensch. Als er den Untergouverneur der Bank, De Ploeuc, mit Nationalgardisten aufsucht, durchschaut der seine Schwächen, wickelte ihn mit gespielter Demut und List ein: Wenn sie die Bankeinlagen konfiszierten, dann breche Frankreichs Wirtschaft zusammen, sie wüssten, was das bedeute! … Basley bildet sich etwas auf seine ökonomischen Kenntnisse ein, geht zurück zum Rat, lässt sich zum “Bank-Delegierten” machen. In der Bank wird er mit Dienstzimmer und Dienstwohnung eingeseift und lässt alles passieren: Von den 2 Mrd. Bankvermögen gehen ohne sein Wissen 120 Mio. an Versailles. Er brüstet sich mit den 7,3 Mio., die an die Kommune gegangen seien (L:210; außerdem noch 17 Mio. von der Bank als Kredit) – dabei muss man wissen, dass Frankreich einen Sold von 9,4 Mio. schuldete, Geld, das bei der Bank lag! (L:184)

    Die Provinz-Frage, von Kommission zu Kommission verschoben, bleibt offen, nicht ein Aufruf. (L:158)

    (So auch auf der 1. Sitzung vom ZK der Nationalgarde: Soll man die Regierung verhaften? Nein, nur Paris sichern, die Provinz wird diesem Bsp. folgen / L:89f.,158.)

    Spät erst kommt ein Programm, das aber keine Orientierung gibt, wie die Kommunen sich wehrhaft zusammenschließen könnten. Lissagaray: “Nach diesem Gesetz … schmückt sich (Paris) mit allen Freiheiten und erklärt von seinen Vesten herab den geketteten Gemeinden »Ahmt mir nach, wenn ihr könnt, ich werde nur durch das Beispiel für euch handeln« …”. (L:194f.: zum Programmentwurf von Pierre Denis und dem Beschluss)

    Das späte Programm erwähnt auch keine anderen Völker und Arbeiterschaften, nicht in Deutschland, nicht in Algerien oder sonst wo. (L:197)

    (Aufstand in Algerien, seit 22.1.1871 und 14.3.1871; allgemeine Kriegserklärung durch Al Mukrani [(M:33)] noch vor der Pariser Erhebung.)

    Die Kommission für Auswärtiges gibt keine Informationen an internationale Arbeiterorganisationen, tut nichts, während die internationale Arbeiterbewegung darauf drängt zu helfen. (L:222)

    Karl Marx hebt aber jenseits dieses Versagens des Rates zu Recht den prinzipiellen Internationalismus der Kommune und ihrer Kämpfer so hervor: “Unter den Augen der preußischen Armee, die zwei französische Provinzen an Deutschland annexiert [sic!] hatte, annexierte [sic!] die Kommune die Arbeiter der ganzen Welt an Frankreich.” (MEW:17/346)

    Der Bürgerkrieg: Heldengeschichten inmitten von Schwarm-Intelligenz

    Nie war eine Arbeiterrevolution so bewaffnet: 60.000 mutige Kämpfer, 200.000 Gewehre, 1200 Kanonen, Munition auf Jahre, 5 Forts und Wälle; 2 Mrd. Franc bei der Bank. (L:180, 184) Die Versailler Armee dagegen: 6.4.1871: 46.000; 25.4.1871: 110.000 usw.( L:205f.) (Versailles zu einem Abkommen zu zwingen, war daher noch möglich.)

    Am 1.4.1871 greift Versailles an: 10.000 Soldaten und 600 Reiter fliehen vor 600 Föderierten – und die Generäle der Föderierten glauben so an ein leichtes Spiel. (L:160f.)

    Man entschließt sich zum Gegenangriff auf Versailles am 3.4.1871: “Auf nach Versailles!” 40.000 von 60.000 Nationalgardisten ziehen los. (L:180)

    Ein Tag später: Während die Abendzeitungen in Paris von Sieg künden: ‚Flourens ist in Versailles angekommen!‘, liegt seine Leiche aufgebahrt in Versailles und wird von reaktionären Schaulustigen geschändet. Flourens war ein Liebling von Paris, rettete am 31.10.1870 beim Sturm aufs Stadthaus der Regierung die Köpfe. Der ihn erschlägt, Desmart, wird von der Regierung ausgezeichnet. (MEW:17/334)

    Wie viele Hunderte wird auch General Duval, einer der fähigsten und beliebtesten Offiziere der Kommune, ermordet. – Wie konnte es dazu kommen?

    Nach einem stundenlangen Nacht-Aufmarsch in Paris ziehen 40.000 Nationalgardisten ohne Proviant, ohne Artillerie und Ambulanzen (L:202: Beispielsweise Lachaise) übermüdet und durchnässt gegen Versailles. (L:163)

    Acht Geschütze sind dabei, obwohl hunderte in Paris lagern. (L:165)

    So wie die Regierung der Nationalen Verteidigung gegen Preußen haben hier auch die Generäle der Kommune die Mannschaften ins Verderben gestürzt – Verrat? Das sicher nicht, aber “Schwarm-Intelligenz”.

    Die Flucht von 10.000 Regierungssoldaten vor 600 Föderierten einen Tag zuvor (L:161f.) und eine Depesche vom Rat, Regierungssoldaten hätten berichtet, in Versailles wollen nur die Offiziere, sonst Niemand, kämpfen, machen viele Nationalgardisten glauben, es ginge um eine Demonstration, nicht um eine Schlacht. Sie kommen zum Sammelplatz ohne Proviant und Patronen.

    Die Generäle geben keinen Tagesbefehl heraus, haben keine militärische Erfahrung (es gibt zu wenige Ausnahmen wie Wetzel, Wrobleweski u.a. / L:206f.) und sind nicht taktisch vernetzt. Den Bataillonen fehlen oft führende Offiziere.

    Die Armee von Versailles macht kaum Gefangene, bricht das Kriegsrecht mit Massenmord. Hunderte werden ohne Gericht erschossen. Insgesamt verliert die Nationalgarde 3.000 Soldaten.

    Im Rat aber gibt es keine Abrechnung, keine Konsequenzen. (L:181)

    Doch die Kraft der Revolution speist sich aus der Initiative der Massen. Frauen gründen revolutionäre Klubs und Vereine. Elisabeth Dimitrijew aus Russland etwa gründet eine feministische Gewerkschaft, die mit Hunderten Helfenden überall einspringt. Frauen retten Verwundete aus den Kämpfen, stehen ihnen gegen die Ordensschwestern in den Spitälern bei. Sie bilden bewaffnete Frauen-Einheiten. Marketenderinnen, einst Geschäftsfrauen neben dem Tod, fallen als Revolutionäre in Kämpfen zu Dutzenden.

    Louise Michel versorgt Verwundete ohne Schutz in vorderster Linie bis zum letzten Kampftag. Die immer heitere und sanfte junge Frau ist stadtweit bekannt. (V:292) Viel diskutiert wird ihr Vorschlag, dass sie Thiers töten geht – eine Judith vor Holofernes! Vor dem Kriegsgericht sagt sie vor dem Urteil: ”Da jedes Herz, das für die Freiheit schlägt, nur auf ein Stück Blei Anspruch hat, verlange ich, was mir zusteht …”. Sie wird nach Neukaledonien verbannt. Nach der Verbannung wieder in Frankreich, lehnt sie später vor Gericht eine Amnestie für sechs Jahre Haft für ihren Aufruf zum Plündern von Bäckerläden ab. (K+S:269)

    Kinder eifern den Müttern und Vätern nach, kämpfen voller Elan nicht nur auf Barrikaden, sondern auch schon im Feld.

    Obwohl Regierungssoldaten vor dem Mut der Föderierten immer noch ausreißen (L:163, 206), der Feind wird von Woche zu Woche gefährlicher, drillt seine Armee, kann in der Provinz rekrutieren und bekommt vehemente Hilfe von Preußen – die ist aber auch bezahlt: Die Reparationen steigen dafür von 200 Mio. auf 5 Mrd.

    130.000 Kriegsgefangene werden von Preußen nach Versailles geschickt (L:206; Versailler Armee bisher nur 46.000, jetzt 160.000 bis 180.000, Paris: 60.000).

    Die Preußen betreiben für Versailles Spionage.

    Sie riegeln Paris auf der Ostseite ab (niemand kann die Stadt verlassen). – Und der Rat? – Macht keinen Verteidigungsplan, teilt Paris nicht in Sektoren ein, beschäftigt sich aber mit dem Pfandhaus (der Werthöhe der zurückzugebenden Pfänder bzw. der Enteignung).

    Es gibt keine durchgesetzte allgemeine Mobilmachung (vgl. L:203, Anmerkung 2).

    Ergebene Männer kämpfen mit Bürokratie und Kommissionen einen ganzen Tag um eine Kanone. Kriegsministerium und Artillerie-Komitee konkurrieren um Kanonen (L:214): Von 1200 sind nur 200 in Benutzung. (L:207)

    Bataillone werden in den Stellungen nicht ausgewechselt, sondern verschlissen. (L:209, 214)

    Die Folge ist Disziplinverlust überall – die einen kämpfen mutig nur nach eigener Sicht, die anderen gewöhnen sich ans “sich Zurückhalten”. (L:209)

    Es gibt nur eine einzige Kriegsrat-Sitzung, und das viel zu spät. (L:274, Anmerkung 2)

    Einige Generäle und Räte träumen dann auch schon von einer Militärdiktatur. (L:210)

    (Z. B. versucht Rossel gegen die Unordnung im Rat am 9.5.1871 nach dem Fall des Forts Issy einen Putsch / V:216.)

    Während die Kommune so ihre Verteidigungschancen vertut (L:181, 210), geht Versailles mit größter Brutalität gegen alle vor, die auch nur Sympathie für die Kommunarden äußern. In Versailles wird man sofort verhaftet, wenn man mit einer Zeitung aus Paris erwischt wird oder sich positiv über Paris äußert. Preußen liefert Nationalgardisten aus, die ihnen in die Hände fallen, damit die Versailler sie massakrieren.

    Einnahme von Paris: die “Blutwoche”

    Sonntags-Konzert am 21.5.1871 in den Tuilerien: schönster Sonnentag. Der Veranstalter verkündet: “Nächsten Sonntag wieder hier!” Derweil dringt die Versailler Armee im Westen in die Stadt ein. Das Tor St. Cloud beim Bois de Boulogne wurde verraten.

    Der Kriegsminister Deluscluze glaubt noch, der Straßenkampf sei für die Kommunarden günstig. Aber Kriegsmaterial ist unkontrolliert verstreut, vieles lagert ungenutzt in den Kasematten.

    Barrikaden sind in der Stadt nicht strategisch vernetzt angelegt, obwohl seit Wochen eine Barrikadenkommission existiert (Ursache: L:214).

    Als die Versailler in die Stadt sichtbar vordringen (21.5.1871), läuft der Rat auseinander, statt einen Verteidigungsplan zu erarbeiten. (L:295)

    Eine Koordinierung der Straßen-Kämpfe, wie sie Deluscluze versucht, dabei auch Lissagaray als sein Sekretär, findet nicht statt, immer mehr Kämpfer ziehen sich in ihr Stadt-Viertel zurück und kämpfen dort ihren eigenen letzten Kampf.

    Auch nach dem 28.5.1871 machen Gendarmen mit Fahndungslisten und Spitzel noch lange Jagd auf ehemalige Gegner, durch deren Milde sie selbst freilich einst entkommen waren. So fällt Varlin, der aufrechte Internationalist, solcher Entdeckung zum Opfer. Wie man ihn inmitten eines bourgeoisen Mobs zu Tode quält, das bedrückt Jahrzehnte seine Weggefährten. (Beispielsweise: Porttier, Courbet, Vallés, Lefrancais, Longuet – ein anderer mit gleichem Namen wird an ihrer statt erschossen / K+S:29.)

    Nach Schätzungen werden mehr als 30.000 Pariser, vielleicht auch 40.000, ermordet. Gefangene werden selten gemacht, aus Gefangenengruppen wählt man nach Nase, Kleidung, Gestalt aus und erschießt – wehe dem, der Schuhe der Nationalgarde trägt, zu schlecht oder zu gut gekleidet ist, der zu groß oder zu schön ist, der zu klug oder zu dumm aussieht.

    Woran ist die Pariser Kommune zugrunde gegangen?

    Prinzipiell war es ein erster Versuch, die Klassenherrschaft abzuschaffen, als die Voraussetzungen dazu noch nicht reif waren.

    Im Einzelnen:

    • Der Gegner wurde in seiner Brutalität, wachsenden Stärke und Taktik unterschätzt (die eigenen Vorteile verspielt).
    • Die militärische Leitung und Planung wurden nicht systematisch organisiert. (L:214ff. / vgl. die traurige Rolle von Cluseret als Kriegsminister – ein Aufschneider: L:215)
    • Es gab keine allgemeine Mobilmachung.
    • Eine wirklich arbeitende Sicherheitspolizei fehlte. (L:216)
    • Feinde der Kommune wurden häufig gering bestraft oder laufen gelassen.
    • Der Rat arbeitete ineffektiv und wenig korrigierfähig, er schuf kein Programm, das Orientierung gegeben hätte.
    • Die Zusammenarbeit mit der Provinz und anderen Kommunen lag brach.
    • Die Bank, der Lebensnerv der Bourgeoisie von Frankreich, wurde nicht verstaatlicht, damit hätte Paris eine Abmachung mit Versailles erzwingen können, so Lissagaray. (L:153)

    D A S             H E I SS T :

    Die Diktatur des Proletariats war eine noch offene Frage.

    Im Anblick der Mauer am Friedhof Père Lachaise – einige Thesen

    Pazifismus war für die Kommunarden unmöglich. Gewaltverzicht ist ein taktischer Grundsatz der Massenbewegung in einer noch verdeckten Gewalthierarchie (nur für eine vorrevolutionäre Etappe tauglich).

    Marx: “Die Waffe der Kritik kann die Kritik der Waffen nicht ersetzen”. (MEW:1/385)

    Die Diktatur des Proletariats ist eben keine Gewalt verherrlichende Idee. Sie wird der Klasse durch die historischen Bedingungen aufgezwungen, bei Strafe ihres Untergangs. Ob diese Diktatur eine der Klasse gegen die Klasse bleibt, statt in Cliquenpolitik zu enden, das ist die Frage nach der täglichen politischen Aktivität von Massen. Ohne diese Aktivität ist jede Klugheit einer Regierung oder einer Partei auch keine Lösung.

    Die Kommune hat es nicht geschafft, anders als die Zapatistas in Mexiko und die kurdischen Räte in Rojava, sich mit den Massen koordiniert zu verbinden.

    Volksbewaffnung ist die erste Pflicht der Revolution.

    Der alte Staat kann nicht übernommen werden, er muss gebrochen werden.

    Räte müssen an seine Stelle treten und dort bleiben, so erst wird das Volk ein wirklicher ”Souverän”.

    (Beispielsweise: Scheitern der November-Revolution: ASR schafft sich im Zirkus Busch mit der Abstimmung für eine Nationalversammlung als neue Regierung selbst ab.)

    Gegenüber dem Rat braucht es keine Regierungsbildung, der Rat   i s t   die Regierung, eine Regierungsversammlung mit Kommissionen (das ist die einzig mögliche Staatsführung im Sozialismus).

    Arbeiterlohn im Rat, abrufbares Mandat und direkte Rechenschaftspflicht sind unverzichtbare Prämissen.

    Aufhebung der Gewaltenteilung, d. h. Polizei und Justiz dürfen nicht separat existieren, sondern nur untergeordnet.

    (Gewaltenteilung wird heute als Heilsrezept vorgestellt, das ist falsch, wir erleben gerade, wie die Lüge von der geschützten Objektivität durch Gewaltenteilung in sich zusammenbricht.)

    Das große Privateigentum muss enteignet sein, der Nationalreichtum verstaatlicht.

    Beispielsweise: die Bank von Frankreich – den Zins abzuschaffen, hätte wenig bis gar nichts geändert, das wäre nur eine Reformidee im Rahmen ihres Machtapparats gewesen.

    Das Proletariat ist die einzige Klasse, die nur der Produktionsmittelbesitzer sein kann, wenn sie die gesamte Klasse kollektiv als Besitzer einsetzt. Das sozialistische Volkseigentum ist nicht mit einem Titel als Gruppeneigentum oder Staatseigentum gewahrt, sondern nur durch die organisierte Entscheidungsmacht eines in all seinen Gliedern assoziierten Proletariats – die vernetzten Räte!

    (Marx: Die Pariser Kommune “war die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.” [MEW:17/342])

    Diese Erfahrungen sind das wichtigste Erbe der Pariser Kommune, dem gegenüber ideenreiche Entwürfe vom neuen Staat weit zurück bleiben.

    Schlusswort: Die Siegessäule im Tiergarten von Berlin

    In Paris soll der weiße Stein von Sacré Cœur das Blut der Revolution verbergen, in Berlin versuchen es die deutschen Herrscher mit Gold, gestohlenem Gold aus Frankreich: Aus 5 Mrd. Franc Reparationen wurde der Reichstag bezahlt, vollständig. Unweit steht die “Goldelse”, nicht weniger obszön – die Kanonen der Pariser Kommune können wir als Goldzierde an ihrer Säule herabhängen sehen, wie rinnendes Blut.

    Die “Kommune [aber] wird ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft. Seine Märtyrer sind eingeschreint in dem großen Herzen der Arbeiterklasse. Seine Vertilger hat die Geschichte schon jetzt an jenen Schandpfahl genagelt, von dem sie zu erlösen alle Gebete ihrer Pfaffen ohnmächtig sind.” (Marx: MEW:17/362)

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