Wie man heutzutage den politischen Gegner mithilfe regierungsloyaler Gerichte aus dem Weg räumt
Von Peter K. Panem – 14.04.2025
Was machen sie nur falsch, die Regierenden, dass ihnen zunehmend die Wähler weglaufen? Machtverlust und Ende der Regierungsverantwortung drohen, wenn heute, morgen oder übermorgen neu gewählt werden würde. Die Konkurrenz gewinnt an Zulauf und das eigene Wählerklientel schwindet. Doch die Regierenden haben eine Lösung für dieses Dilemma gefunden. Kann der politische Gegner nicht mehr an der Wahlurne besiegt werden, dann schickt man ihm die – schon lange nicht mehr unabhängige – Justiz auf den Hals, die dann hanebüchene Vorwürfe zum Anlass nimmt, den Widersacher zu kriminalisieren und aus dem Wettbewerb zu nehmen.
Marine Le Pen / Frankreich
Am 31. März 2025 wurde Marie Le Pen, französische Politikerin des Rassemblement National (RN), von einem Gericht in Paris in der Affäre um die Scheinbeschäftigung von Mitarbeitern im Europaparlament wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder in ihrer Zeit als EU-Abgeordnete verurteilt. Das Urteil lautet auf vier Jahre Haft & fünf Jahre Nichtwählbarkeit. Le Pen habe mit EU-Geldern Parteimitglieder bezahlt, befand das Gericht. Konkret geht es bei den Vorwürfen um die Veruntreuung von 474.000 Euro öffentlicher Gelder, Gehaltszahlungen für vier parlamentarische Assistenten, die gleichzeitig für die Partei Rassemblement National in Frankreich tätig gewesen sein sollen.
Für sie bedeutet das, dass sie für fünf Jahre nicht bei Wahlen antreten darf, da auch im Fall einer Berufung, das Verbot zunächst einmal bestehen bleibt. Dadurch wird es mehr als unwahrscheinlich, dass die französische Politikerin, sehr zum Wohle von Emmanuel Macron, dessen schärfste Rivalin sie ist, bei den bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich im Jahr 2027 wird antreten können. 37 Prozent der Franzosen hatten die Absicht, sie 2027 ins Amt zu wählen. Obwohl ein Verlust des passiven Wahlrechts bei derartigen Urteilen in Frankreich nicht unüblich ist, stellt das sofortige in Kraft treten – nicht erst nach einer Berufung und dem endgültigen Urteil einer höheren Instanz – eine bemerkenswerte Besonderheit dar.
Neben dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, der sich solidarisch mit der französischen Politikerin erklärte, sprach auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in Moskau von einer „Verletzung demokratischer Normen“. Marine Le Pen selber sagte zu dem Urteil, „Ich denke, der Wille der Staatsanwaltschaft besteht darin, den Franzosen die Fähigkeit zu nehmen, diejenigen zu wählen, die sie wählen wollen“.
Ekrem Imamoğlu / Türkei
Mit einem Großaufgebot an Sicherheitskräften hat die türkische Polizei am frühen Morgen des 19. März 2025 den Oberbürgermeister Istanbuls, Ekrem Imamoğlu in seinem Haus festgenommen und Untersuchungshaft angeordnet. Inzwischen wurde er auch als Oberbürgermeister Istanbuls suspendiert. Offiziell werden ihm und weiteren 99 Personen aus seinem Umfeld Korruption vorgeworfen. Dabei gehe es um Aktivitäten im Zusammenhang mit Ausschreibungen der Istanbuler Stadtverwaltung, heißt es. Auch soll Imamoğlu die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützt haben. Darüber hinaus wurde ihm, angeblich wegen unrechtmäßiger Universitätswechsel, der Hochschulabschluss der Istanbul-Universität aberkannt, die Voraussetzung für die Kandidatur für das Präsidentenamt ist.
Bereits in der Vergangenheit ist die türkische Justiz gegen Imamoğlu vorgegangen. Von einem Gericht wurde er mit einem Politikverbot belegt und zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Die Direktorin von Human Rights Watch Türkei spricht im Zusammenhang mit Imamoğlus erneuter Verhaftung von einem politisch motivierten Vorgehen und einem „eklatanten Missbrauch des Justizsystems“. Selbst die deutsche Bundesregierung kritisiert diesmal die Vorgänge scharf.
Imamoğlu gilt als schärfster Konkurrent von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die CHP ist die größte Oppositionspartei der Türkei und Imamoğlu sollte bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2028 als ihr Spitzenkandidat antreten. Sie regiert inzwischen in fast der Hälfte der türkischen Großstädte, darunter Istanbul, Izmir und Ankara. Özgür Özel, Chef der Partei CHP, bezeichnete Imamoğlus Verhaftung als Versuch, das türkische Volk daran zu hindern, bei der Präsidentschaftswahl einen anderen Kandidaten als Erdoğan zu wählen. Dies ist ein Putschversuch gegen einen legitim gewählten Politiker und die Demokratie, so Özel weiter.
Seit der Absetzung und Verhaftung Imamoğlus gehen Woche für Woche trotz Demonstrationsverbots bis zu zwei Millionen Menschen in der Türkei auf die Straße, um gegen die türkische Regierung zu demonstrieren. Diese hat seit den Beginn der Proteste den Zugang zu einer Reihe von sozialen Netzwerken wie z.B. YouTube, X Tik Tok oder Instagram eingeschränkt.
Călin Georgescu / Rumänien
Călin Georgescu lag in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl vom 24. November 2024 in den Prognosen mit 44 Prozent der Stimmen völlig überraschend vorne und war nicht weit davon entfernt, neuer rumänischer Präsident zu werden. Dann erklärten am 6. Dezember 2024 die obersten Richter des rumänischem Verfassungsgerichts die stattgefundenen demokratischen Präsidentenwahl – ohne ausreichende Beweise – nachträglich für ungültig, nachdem sie die Ergebnisse noch eine Woche zuvor bestätigt hatten. Angeblich wurde der parteilose, prorussische Anti-EU-Kandidat Călin Georgescu mithilfe von Empfehlungsalgorithmen der APP TikTok durch bezahlte Werbung massiv gefördert. Die Wiederholung der Wahl soll am 4. Mai stattfinden.
Darauf folgten Polizeirazzien gegen Georgescus Anhänger und seine Verhaftung aufgrund dubioser Strafanzeigen, wie z. B. „Anstiftung zu Handlungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung“, „Verbreitung falscher Informationen“ oder die Beteiligung an der Gründung einer Organisation „mit faschistischem, rassistischem oder fremdenfeindlichem Charakter“. Von der Kandidatur bei der Wiederholung der Präsidentschaftswahlen wurde Georgescu daraufhin vom Gericht jedoch ausgeschlossen. Georgescus Antrag, die Annullierung des ersten Wahlganges zurückzunehmen lehnte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im März 2025 ab.
Scheinbar zufällig erfolgte die Aufdeckung von Georgescus angeblichem Fehlverhalten genau zu dem Zeitpunkt, als die Gefahr für das rumänische Establishment, die Nato und die EU-Verbündeten bestand, dass er die rumänische Präsidentschaftswahl für sich entscheiden könnte. Als Reaktion auf Georgescus Verhaftung versammelten sich in Bukarest zu Protesten mehrere hundert Georgescu-Anhänger in der Nähe des Gerichts, die rumänische Flagge schwenkten und in Sprechchören „Diebe“ skandierten. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei und dem Einsatz von Tränengas.
Călin Georgescu war UN-Exekutivdirektor und Präsident des Club of Rome für Europa. Im Wahlkampf hatte er sich kritisch zur Mitgliedschaft Rumäniens in der EU und NATO geäußert und war auch der einzige Kandidat, der sich gegen die Errichtung eines NATO-Stützpunktes an der Grenze zur Ukraine aussprach. Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete jede Präsidentschaftswahl in Rumänien, die ohne die Teilnahme Georgescus stattfindet als „illegitim“. Matteo Salvini, stellvertretender Ministerpräsident Italiens, kommentierte das Antrittsverbot von Georgescu mit den Worten, „den Rumänen wird ihr Wahlrecht geraubt“.
Alice Weidel / Deutschland
Angesichts des eklatanten Bruchs von Wahlversprechen bzw. der Aufkündigung der Schuldenbremse liegt laut aktuellen Umfragen die AfD erstmals in der Wählergunst vor der CDU. Bereits im Dezember 2024 forderte ein Gruppe von 43 Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eine Prüfung der Erfolgsaussichten eines etwaigen Verbotsantrags gegen die AfD. Dem Antrag zufolge soll das Parlament beauftragt werden, „alsbald Gutachter zur Prüfung der Erfolgsaussichten eines Antrages auf Verbot der ‚Alternative für Deutschland‘ zu bestimmen“. „Vor dem Hintergrund des Ergebnisses dieser Prüfung entscheidet der Deutsche Bundestag zeitnah über die Einleitung eines Verbotsverfahrens“, heißt es in dem Antrag weiter[1]. Sinken die Umfragewerte der Union weiter ab bleibt den Regierenden nur ein AfD-Verbot, um eine AfD-Kanzlerin namens Alice Weidel zu verhindern. Da dies aber nicht von heute auf morgen umzusetzen wäre hat Thierry Breton, ehemaliger EU-Binnenmarkkommissar, bereits im Januar 2025 in einem Interview erklärt[2], dass die EU auch in Deutschland ähnliche Maßnahmen wie in Rumänien erwägen könne, sollte die AfD die Bundestagswahl im Februar 2025 gewinnen. Das befördert natürlich den Verdacht, dass die EU bei Georgescus politischem Sturz zumindest wissentlicher Beobachter – wenn nicht sogar Partner – war und bereit ist, immer wieder, wie aktuell auch in Frankreich, mittels regierungsloyaler Gerichte missliebige Wahlergebnisse in ihrem Sinne zu „korrigieren“.
[1] https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-1033498
[2] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-10-2025-000414_EN.html