Im Februar 2023 führte die Weltwoche ein Interview mit dem französischen Historiker Emmanuel Todd. Dieser prophezeit heute, im Gegensatz zu 1976, nicht mehr den Untergang des Kommunismus und Niedergang der Sowjetunion bzw. Russlands, sondern den der USA. Hauptleidtragende dabei sind seiner Meinung nach jedoch die Deutschen, „die zur Zielscheibe der Amerikaner geworden seien“.
Nach Todds Einschätzung sei Russland wesentlich stabiler als die USA. Deren Kriege sowohl in Afghanistan als auch im Irak scheiterten, ebenfalls konnten sie den Aufstieg des Iran nicht stoppen, genauso wenig wie den Chinas und mit den Saudis liefe es aktuell auch nicht so gut. Die Kindersterblichkeit liege in den Vereinigten Staaten deutlich höher als in Russland und in den USA würde auch die allgemeine Lebenserwartung sinken. „Nicht Russland – Amerika steckt in der Krise“, so Todd.
Während westliche Politiker und Medien Putin als kriegslüsternes Monster sähen, sei für Todd Russland unter ihm stabiler und zivilisierter geworden, selbst sein vermeintlich brutales und rationales Denken und Handeln sei für Todd nachvollziehbar und aus der Situation heraus quasi vernünftig. Demgegenüber ist ihm das Verhalten des Westens ein einziges Rätsel und zeugt von einer „westlichen Irrationalität“.
Für Todd ist ganz klar, dass es die Amerikaner waren, die die Nord Stream Pipelines gesprengt haben, doch es spielt für ihn keine Rolle, denn so etwas gehört zur allseits bekannten Politik der Amerikaner. Deren Vorstellung von Macht ist klar und zynisch und zur Durchsetzung ihrer Interessen haben sie schon immer Kriege geführt und Aufstände angezettelt. Wie kann der Westen nur glauben, dass es die Russen gewesen sind, die die Röhren, die sie selbst gebaut haben, zerstörten? Wie können uns die westlichen Medien weißmachen wollen, dass die Russen auf Gefängnisse schießen, die sie besetzt haben oder dass sie Atomkraftwerke beschießen, die sie vor Ort kontrollieren? Todd spricht hier von einer „Umkehrung der möglichen Realität“ bzw. von einem „herrschenden Realitätsverlust“ der Europäer, und das ist für ihn viel schlimmer. In einem Zustand geistiger Verwirrung ist den Europäern, zwischen der offensiven Strategie der Amerikaner und der defensiven Strategie der Russen, das geopolitische Denken abhandengekommen, und dies gilt ganz besonders für Deutschland.
Doch Todd hat viel Mitgefühl für die Deutschen, für ein Land, das sich vom Krieg losgesagt hatte und dass, aufgrund rückgängiger Geburtenraten, für die Aufrechterhaltung der Industrie fremde Arbeitskräfte ins Land holen muss. Eine funktionierende Kooperation durch Rohstofflieferungen mit Russland spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. In dem, seit 1945 genährten Glauben, dass Deutschland durch die USA geschützt werden würde, entstand das Projekt Nord Stream. Für Todd ist dies die größte Tragödie von allen.
Laut der Brzezinski Doktrin muss Amerika seine Vorherrschaft auf dem Schachbrett der Weltpolitik verteidigen. Die russischen Nationalisten und Ideologen wie Alexander Dugin träumten von einer Weltmacht Eurasien, welche für die Amerikaner mehr und mehr zu einer existenziellen Bedrohung geworden sei. Eine Annährung von Russland und China wollten die USA unter allen Umständen verhindern. Nach der Wiedervereinigung wurde Deutschland nach und nach zur führenden Macht in Europa und im Zuge der Zusammenarbeit mit Russland damit zum direkten Rivalen, zur Zielscheibe der USA. Dadurch erlangte die Verhinderung dieser Annährung oberste Priorität der amerikanischen Strategie, so Todd weiter. Das haben die Amerikaner so auch immer klar und deutlich geäußert. Deutschland hat seine Sicherheit über viele Jahre den Amerikanern anvertraut und nicht verstanden, dass die Ausweitung der NATO in Osteuropa nicht in erster Linie gegen Russland, sondern gegen Deutschland gerichtet war. Die USA haben nichts unversucht gelassen, die vorherrschende Stellung Deutschlands in Europa zu sabotieren.
Die Deutschen befänden sich in einer Lage kognitiver Überforderung und litten „an diesem Trauma des Verrats durch den beschützenden Freund – der 1945 auch ein Befreier war“, so Todd.
Anders gestaltete es sich in der Ukraine. Diese ist für Russland von existentieller Bedeutung. In Zusammenarbeit mit Amerika, Großbritannien und Polen wollte die Ukraine die russischen Gebiete im Donbass, genauso wie die Krim, zurückerobern. Sie wurde zu diesem Zweck vom Westen systematisch aufgerüstet um Russland zu bedrohen und so faktisch zu einem inoffiziellen NATO-Mitglied zu werden. Putin hat diese Gefahr erkannt und immer wieder diesbezügliche Reaktionen angekündigt und mit Krieg gedroht. Putins Angriff war demnach eine defensive Invasion als Antwort auf die Provokation des Westens, sagte Todd weiter.
Die NATO besteht aus der Achse Washington-London-Warschau-Kiew. Deutschland und Frankreich spielen hier lediglich die Rolle der Juniorpartner. Emmanuel Todd vertritt die Ansicht, Deutschland wollte nicht in den Krieg und weiß auch ganz genau, dass Nord Stream von den Verbündeten zerstört wurde, aber kann es nicht sagen. „In Tat und Wahrheit sind die Deutschen von den Amerikanern angegriffen worden“. Der amerikanische Politologe John Mearsheimer ging noch davon aus, dass die USA die Ukraine aufgeben würden, denn er hielt den Sieg Putins für eine Gewissheit. Doch auch für die USA ist dieser Krieg von existenzieller Wichtigkeit geworden. Die Verschuldung der USA ist unglaublich und der Erhalt ihres Wohlstandes ist auf den Tribut anderer Länder angewiesen. „Falls Russland gewinnt, bricht das imperiale System der Vereinigten Staaten zusammen“.
Mit der provozierenden Reise von Scholz nach Peking unternahm Deutschland den vernünftigen Versuch, auch weil China langfristig ein Verbündeter der Russen bleiben wird, sich gegen die Übermacht der Amerikaner zur Wehr zu setzen. Doch im Kontext eines drohenden dritten Weltkrieges erkennt das deutsche Parlament den Holodomor an und will damit darüber bestimmen, was ein Genozid ist und was nicht. Für Todd stellen sie damit den Holodomor auf eine Stufe mit der Shoah und relativieren gleichzeitig Ausschwitz. Man könnte meinen, Deutschland sei in diesen Zeiten des Krieges dem Wahnsinn verfallen. Während der Westen Putin mit Hitler vergleicht bzw. von der Verteidigung der Freiheit spricht und Putin für die Entnazifizierung der Ukraine und den Schutz der dort lebenden Russen kämpft, geht es in diesem Krieg in Wirklichkeit um die Durchsetzung von Machtansprüchen, um globale Interessen, um Territorien und um Rohstoffe, so Todd.
Ein anderer gefährlicher, bisher kaum beachteter Aspekt in diesem Krieg ist das unterschiedliche anthropologische Weltbild. Im Gegensatz zum Individualismus und der Lebensform der Kleinfamilie, herrscht in Russland, China, in der arabischen Welt und in Afrika die Kultur der Patrilinearität vor. Der soziale Status der Kinder hängt einzig und allein vom Vater ab. Während sich Putin gegenüber einer vorschreibenden LGBT-Thematik und moralischen Lektionen verwehrt, wirft der Westen den Russen Homophobie vor. Hier wird der Bruch zwischen dem Westen und der restlichen Welt besonders deutlich und ein Zusammenkommen unmöglich.
Kriege bedeuten immer, dass es anders kommt als man denkt, so Todd. Trotz der Vorstellung eines übermächtigen Russlands hielt die Ukraine, zwar mit Unterstützung der NATO, aber trotzdem völlig unerwartet dem Angriff stand. Auch sollten die Sanktionen Russland in die Knie zwingen, doch seine Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen, ganz im Gegenteil, der Rubel hat gegenüber dem Dollar seit Ausbruch des Krieges um 23 Prozent zugelegt, sogar 36 Prozent gegenüber dem Euro, und das obwohl das Bruttosozialprodukt von Russland und Belarus nur 3,3 Prozent des gesamten Bruttosozialprodukts des Westens beträgt. Nicht die russische Wirtschaft sieht sich bedroht, sondern die europäische, so die Einschätzung von Emmanuel Todd. Auch der Anteil der USA an weltweiten Industrieprodukten ist von 45 Prozent nach dem Zweiten Weltkrieg auf inzwischen 27 Prozent gesunken. China ist im Bereich des Maschinenbaus führend. „In den USA werden 7 Prozent der Studenten zu Ingenieuren ausgebildet. In Russland sind es 25 Prozent“. Die Hälfte der amerikanischen Wissenschaftler und Ingenieure kommen aus dem Ausland, vornehmlich aus Indien und China, beides BRICS-Staaten. Was passiert, wenn China die Auswanderung seiner Studenten, die für die Waffenindustrie unersetzbar sind, verbietet? Putin weiß um die Schwäche des Westens hinsichtlich der Deindustrialisierung und des Fachkräftemangels. Dessen Wohlstand beruhe lediglich auf fiktiven Werten und dem fortwährenden Einsatz der Notenpresse, und deshalb habe Putin es auch gewagt, ihn anzugreifen, so Todd weiter.
In diesem Krieg kommen zusehends weniger hochentwickelte Waffen zum Einsatz. Für Emmanuel Todd handelt ist sich zunehmend um einen „Zermürbungskrieg, einen Abnützungskrieg, in dem die militärische und industrielle Macht konvergieren“. Russland und die NATO sind dabei ihre Bestände, zum Teil überaltert, zu verbrauchen und Platz für neue Rüstungsgüter zu schaffen. Die Strategie der Russen setzt auf eine „longue durée“ des amerikanischen Niedergangs. Demgegenüber ist für die Amerikaner die Kontrolle über Europa und vor allem Deutschland zu ihrer Priorität geworden, was den Druck auf seine alten Protektorate erhöht. Während noch im Irakkrieg von europäischer Seite protestiert wurde präsentiert sich Europa inzwischen gleichgeschaltet und in einer unerschütterlichen Solidarität mit den USA. Der Rest der Welt aber hält es mit Russland, welches für eine konservative Weltpolitik und für viele Völker und Nationen für die Verteidigung der Souveränität und dem Recht auf Existenz steht. Mit der Akzeptanz der russischen Sprache in den russischsprachigen Gebieten in der Ukraine, dem Verzicht auf einen Beitritt der Ukraine zur NATO und, wenn die NATO auf die militärische Aufrüstung, Ausbildung und Beratung der ukrainischen Armee verzichtet hätte, wäre der Krieg möglicherweise vermieden worden, so die Einschätzung von Emmanuel Todd.
Der Krieg um Donezk findet nur hundert Kilometer von der russischen Grenze entfernt statt, während die Distanz zu Washington 8400 Kilometer beträgt. „Auch deshalb ist es ein defensiver Krieg – ein Verteidigungskrieg“, so Todd. Während die Ukraine zu Beginn des Krieges ein failed state und völlig korrupt war, wird sie vom Westen als angehende Demokratie verklärt. Ihre Familienstrukturen sind zwar liberaler als im patriarchalen, autoritären Systems Russlands und stehen somit in der individualistischen Tradition Europas, aber sie wird fremdfinanziert und ist kein Staat im klassischen Sinn mehr. Todd stellt die Existenzberechtigung der Ukraine zwar nicht in Frage, aber den Anspruch auf zwei relativ kleine Regionen, gegen den Willen des zehnmal mächtigeren Nachbarn Russland, zu behaupten, hält er für nicht vernünftig. Russland fordert für die russische Bevölkerung im Donbass und auf der Krim ein Leben, das ihre kulturelle Autonomie respektiert.
„Wenn Russland überlebt, den Donbass und die Krim behält, wenn seine Wirtschaft weiterhin funktioniert und es seine Handelsbeziehungen neugestalten kann, mit China und Indien – dann hat Amerika den Krieg verloren. Und in der Folge wird es seine Alliierten verlieren. Deshalb werden Amerika und die Nato weitermachen. Und darum handelt es sich um einen Weltkrieg, der andauern wird. Seine hauptsächlichste Ursache ist die Krise des Westens.“
Der Westen bestehe jedoch nur aus den Atlantikstaaten USA, Großbritannien und Frankreich und ihnen sind die Abwicklung der Industrie und die Transformation zugunsten einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft gemein. So gesehen sind weder Japan noch Deutschland westliche Staaten und noch 1933 „wäre niemand auf die Idee gekommen, Deutschland als westliches Land zu bezeichnen“. Diese Zuordnung ist eine Folge des Zweiten Weltkrieges der militärischen Niederlage. Im Gegensatz zu den Japanern, die gar nicht zum sogenannten Westen gehören wollen, tun die Deutschen so, als gehörten sie tatsächlich zum Westen. Der Krieg aber hat deutlich gezeigt, dass die bisher führende europäische Wirtschaftsmacht lediglich Teil eines verängstigten, bevormundeten Protektorats ist. Aber auch die Franzosen sind nicht beachtenswerte Dummköpfe und auch die Engländer sind ein verwirrtes Land im Untergang und frönen einem nicht zu überbietenden Kriegsdelirium, so Todd im Interview.
Der Westen, bzw. Europa, sei wieder unter die Herrschaft der USA geraten und befände sich in einer Spirale der Selbstzerstörung. Indien würde China überholen und zur Supermacht aufsteigen und Russland würde sich als kulturell konservative industrielle Großmacht neu bestimmen, so die Einschätzung von Emmanuel Todd 2023. In der Ukraine führen Russland und der Westen Krieg und wenn er nicht gestoppt wird, würden ihn alle verlieren. Todd wünscht sich für die Deutschen, dass sie, bevor es zu spät ist, begreifen würden: „Die Seite des Guten, auf der sie stehen möchten, ist diesmal nicht jene der Vereinigten Staaten. Das Gute bedeutet: diesen Krieg beenden“.
Über das Studium einer derart verwirrten Gesellschaft schreibt Todd jetzt ein Buch, welches wohl sein letztes sein wird. Er will seine Tätigkeit mit einem „Werk der Vernunft über den dritten Weltkrieg abschließen“.
Der diesbezügliche Artikel ist in der Weltwoche erschienen und unter folgendem link nachzulesen: