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>>Die Heimkampagne von 1969<<

    Zwischen politischer Agitation und reformorientierter Sozialarbeit.

    Von Klaus Mehrbusch.

    Es ist eine Probe auf die Menschlichkeit einer Gesellschaft,

    ob in ihr diejenigen zu ihrem Recht kommen,

    die es selber noch nicht fordern können.[1]

    Die Heimkampagne oder auch Heimrevolte der 1970er Jahre wird von betroffenen Heimzöglingen wie Peter Brosch[2] und Alexander Markus Homes[3], von pädagogischen Aktivisten wie Rainer Kippe und Lothar Gothe[4], von Studenten und Studentinnen wie Gudrun Ensslin[5] und Ulrike Meinhof[6] oder Heimverantwortlichen wie Manfred Kappeler[7] und Gerhard Schaffner[8] sehr unterschiedlich beschrieben und bewertet, mal subjektiv und emotional besetzt, oft vom eigenen politischen Standpunkt geprägt oder wissenschaftlich objektiv recherchiert, hin und wieder in der Erinnerung verklärt oder idealistisch überzeichnet.

    Der folgende Text gibt einen kurzen Überblick über die Heimkampagne, wichtige Eckpunkte, Aktivistinnen und Aktivisten, Gruppen sowie auslösenden Faktoren und soll auch Fragen nach ihren Impulsen für die heutige Soziale Arbeit aufwerfen.

    Unter den Talaren -der Muff von 100 Jahren

    Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg war gekennzeichnet vom Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft und der Neustrukturierung des deutschen Verwaltungsapparates. Die Fokussierung auf das sogenannte Wirtschaftswunder verschleierte den Blick auf die nicht konsequent durchgeführte Entnazifizierung nach dem Krieg und die Notwendigkeit von gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen.

    „In der Regel wurden die Heime von denjenigen weitergeführt, die sie auch schon vor Ende des Krieges unter den Nazis geführt hatten. Zur Entlassung von Heimleitern und Personal wegen einer NS-Vergangenheit ist es nur sehr selten gekommen“ (Schölzel-Klamp/Köhler-Saretzki 2010: 25).

    Um sich voll und ganz dem Aufbau der neuen Bundesrepublik widmen zu können sollte die Vergangenheit ruhen. Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren, so lautete einer, der damals unter den Studierenden gebräuchlichen Slogans gegen die, in der Elterngeneration weit verbreitete, Verdrängung der Gräuel des Nationalsozialismus.

    Die Entwicklung gesetzlicher Jugendhilfe seit 1953

    Die Rechtspraxis nach dem 2. Weltkrieg orientierte sich noch häufig an Auslegungen, Erlassen und Gesetzen aus der Zeit vor 1949. Erst 1953 löste das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) das, am 9.7.1922 verabschiedete, Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) ab. Es wurde 1961 novelliert und in den Jahren 1970, 1974 und 1976 immer wieder geändert und 1991 außer Kraft gesetzt (vgl. Kreft/Mielenz 1988: 330ff.). Das damals im Bürgerlichen Gesetzbuch festgelegte, väterlichen Züchtigungsrecht wurde dahingehend ausgelegt, dass der „Bundesgerichtshof (BGH) […] bis in die 70er Jahre Erziehern und Volkschullehrern […] ein gewohnheitsrechtliches Züchtigungsrecht“ (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe AGJ 2010: 15) zugestand. So war in den 1950er und 1960er Jahren

    „[…] auch die körperliche Züchtigung durch Eltern und Lehrer üblich und auch Kinder und Jugendliche außerhalb der Heime wurden zu Arbeiten herangezogen. Dementsprechend sieht § 1619 BGB die Pflicht des Kindes zu Dienstleistungen in Haus und Geschäft der Eltern vor“ (ebenda: 13).

    Nach dem Ende der Heimkampagne dauerte es noch 29 Jahre bis am 2. November 2000 das Recht auf gewaltfreie Erziehung in § 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches verankert wurde.

    Studentische Kampagnen gegen Heimeinrichtungen zur Politisierung proletarischer Jugendlicher

    Die Zeit von 1966 bis 1968 war in Deutschland geprägt von Straßenschlachten linker Studenten mit der Polizei, von getöteten Demonstranten und dem massiven Protestet der APO und anderer oppositioneller Gruppen gegen die Verabschiedung der sogenannten Notstandsgesetze. Die Nähe und Erfahrungen zum 2. Weltkrieg riefen in vielen Bereichen der Bevölkerung Erinnerungen an das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 wach.

    Unter dem Sammelbegriff Heimkampagne fanden in der Zeit von 1969 (in Berlin bereits ab 1968) bis 1971 zahlreiche studentische Kampagnen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in Städten wie Frankfurt, Berlin, Köln, München und in verschiedenen Bundesländern zur Humanisierung, Liberalisierung sowie Qualifizierung der Heimerziehung und zur Politisierung der proletarischen Jugendlichen statt (vgl. Schölzel-Klamp/Köhler-Saretzki 2010: 90). „Sie wollen zunächst vom Freizeit und Konsumsektor her jüngere Arbeiter politisieren, um danach auf die ökonomischen Probleme überzugehen“ (Brosch 1972: 93).

    „In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 1969 randalierten und revoltieren Zöglinge im Landesfürsorgeheim Glückstadt. Diese ‚Heimrevolte‘ löste eine Flut von Zeitungsartikeln über das Landesfürsorgeheim in Glückstadt aus“ (Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren des Landes Schleswig-Holstein 2008: 29).

    Am 28. Juni 1969 kam es zur Staffelberg-Kampagne (einem eigentlich als modern und reformerisch geltenden Jugendheim in Hessen) der Sozialen Aktion Staffelberg. Sie gilt gemeinhin, unter Beteiligung von Baader, Ensslin und Proll, als Initialzündung der Heimrevolte. Unter Beihilfe von studentischen Genossinnen und Genossen flohen am Abend ca. 30 Jugendliche aus diesem Heim nach Frankfurt und fanden dort bei Studierenden Unterschlupf. Dadurch aufgerüttelt zeigte sich die Öffentlichkeit entrüstet über das Unrecht und die Gewalt in den Jugendheimen. Die Medien berichteten überwiegend wohlwollend über die Kritik der Studentenschaft an den Zuständen in den Fürsorgeheimen. Gleichzeitig versteckte im Sommer 1969 der Kölner Verein Sozialpädagogische Sondermaßnahme Köln e.V. (SSK) ca. 60 entflohene Heimjugendliche im Kölner Untergrund (vgl. Gothe/Kippe 1970: 72). Zögernd erfasste die Heimkampagne nach und nach weitere Bundesländern und später auch das angrenzenden Ausland wie z. B. die Schweiz (vgl. Wenger 2009: 40ff.)). Im Juli und August 1969 flohen Jugendlichen aus 15 weiteren Erziehungsheimen. Einige von ihnen organisierten sich zur Kampfgruppe ehemaliger Fürsorgezöglinge.

    Inzwischen war die Zahl der aus verschiedenen Heimen entflohenen und illegal z. B. in Frankfurt lebenden Jugendlichen auf ca. 50 angewachsen. War anfangs noch die Rede von Veränderungen in der Heimerziehung, wurde jetzt immer deutlicher die langfristige Schließung der Fürsorgeeinrichtungen gefordert. Die Menge an Heimflüchtlingen war jetzt allerdings bereits so groß, dass die Studierenden und Stadtteilgruppen mit der Situation und den daraus resultierenden Unterbringungsproblemen überfordert waren. Die Wohngruppen hatten mit Drogenproblemen, Prostitution und Disziplinlosigkeit zu kämpfen. Es kam immer wieder zu Unstimmigkeiten zwischen den Zielen der Jugendlichen und denen der Studentenschaft. Bei ersten Verhandlungen mit Vertretern von Stadtverwaltung, Landesjugendamt, Freien Trägern und Ministerien wurden zögerlich Zugeständnisse, unter der Bedingung des Abbruchs der Heimkampagne, gemacht. Zur Wiederherstellung der Ordnung, wurde am 1. August 1969, wie vom Ministerium für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen und vom Innenministerium gefordert, die Unterbrechung der Heimkampagne verkündet (vgl. Schölzel-Klamp/Köhler-Saretzki 2010: 73ff.). Es folgte massiver Druck durch die Ordnungskräfte und Verantwortlichen auf die an den Aktionen beteiligten Aktiven und Gruppen zur Umsetzung der Vereinbarungen.

    Die Heimkampagne war gekennzeichnet durch Begriffe wie Widerstand, Gegenwehr und Befreiungs- oder Ausbruchsversuche von Jugendlichen aus Erziehungsheimen in der BRD. Sie sollte zum systemverändernden Aufbruch gegen unmenschliche Zustände in zahlreichen Heimen werden und soziale Randgruppen (wie z. B. jugendliche Heimzöglinge) für den revolutionären Kampf mobilisieren. Im Kern stellten die Beteiligten die Hauptforderungen nach der Abschaffung der Heime auf lange Sicht, der freien Berufswahl und tarifgerechten Bezahlung der Heimzöglinge sowie der Einrichtung von Wohnkollektiven und Legalisierung der entflohenen Heiminsassen auf (vgl. Köhler-Saretzki 2008: 23). Die Studentinnen und Studenten hätten jedoch nur wenig erreichen können, wenn die Öffentlichkeit nicht so entrüstet über das Unrecht und die Erziehungspraxis in den Heimen gewesen wäre und für die Aktionen der Studentenschaft tiefe Sympathie empfunden hätte.

    Wohnkollektive und Wohngruppen

    Im Oktober und November 1969 wurden vier Wohnkollektive vom Träger Verein für Arbeits- und Erziehungshilfe e.V., Frankfurt in der Stadt gegründet. Mit den Anforderungen der sozialpädagogischen Jugendarbeit überfordert, kam es jedoch bereits im Februar 1970 wieder zur Schließung eines dieser vier Wohnkollektive (vgl. Homes 1984, 35ff.). In Köln richtete 1970 der SSK – Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Köln e.V., später Sozialpädagogische Selbsthilfe Köln e.V., ein erstes Wohnkollektiv für entflohene Heimzöglinge ein. Auch dort herrschten ebenfalls chaotische Zustände in den Wohngruppen. Im April 1970 kam es zur Besetzung eines leer stehenden Hauses in Köln durch Heimzöglinge und gemeinsam mit Studierenden sowie ehemaligen Heimzöglingen entstanden vielerorts selbstorganisierte und selbstverwaltete Jugendwohn- und Arbeitskollektive.

    Ebenfalls 1970 drehte Ulrike Meinhof den Film Bambule über die Situation in einem Erziehungsheim für Mädchen. Die geplante Ausstrahlung im Mai 1970 wurde von der ARD abgesetzt wegen Verdachts ihrer Beteiligung an der Befreiung von Andreas Baader aus der Haft. Erst 24 Jahre später sollte es schließlich zur Ausstrahlung dieses Filmes im öffentlich rechtlichen Fernsehen kommen.

    Die Aktionen der Berliner Heimkampagne richteten sich anfangs überwiegend gegen die Senatsheime. Am 8. Dezember 1971 wurde das ehemalige und bis dahin leer stehende Schwesterwohnheim auf dem Gelände des Bethanien-Krankenhauses am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg besetzt und in Georg von Rauch-Haus umbenannt. Bereits kurz danach erkennt der Berliner Senat es als selbstverwaltetes Wohnkollektiv an.1973 folgte das Tommy Weissbecker-Haus, ebenfalls in Kreuzberg. Beide Hausprojekte unterstützten entflohene Jugendliche und waren Anlaufstelle für Straßenkinder und Trebegänger. Aus den Erfahrungen des selbstorganisierten Jugendzentrums Drugstore in Schöneberg gründete sich am 29.02.1972 der Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Berlin e. V. (SSB) „als trägerschutzstruktur u. a. für die trebe-selbstverwaltung“ (sozialpädagogische sondermaßnahmen berlin e.V. 2012: o. S.).

    Geächtete, Ausgebeutete, Verfolgte und Arbeitsunfähige

    Die Heimerziehung war

    „[…] bereits früh ein Angriffsziel der politischen Linken gewesen. Diese hatte schon vor 1914 heftig die Repressivität der Fürsorgeerziehung, ihren Klassencharakter und ihre konfessionelle Monopolisierung kritisiert. Mitte der 1920er Jahre agitierten vor allem Kommunisten nach Kräften gegen die ‚Fürsorgehöllen des kapitalistischen Staates‘“ (Köster 2010: 66).

    Wie Marcuse es formulierte, sei die (notwendige) gesellschaftliche Veränderung, nach dem Ausfall der Arbeiterklasse und der Studierenden als revolutionären Subjekten, nunmehr in erster Linie von gesellschaftlichen Randgruppen zu erwarten. Demzufolge betrachteten viele linke Studenten und sozial arbeitende Akteure diese Geächteten, Ausgebeuteten, Verfolgten und Arbeitsunfähigen (Obdachlose, Straftäter, Fürsorgezöglinge etc.) als potenziell revolutionäres Subjekt, welches durch die entsprechende Schulung und Agitation zur systemverändernden Masse werden würde (vgl. Steinacker 2011: 36). Gesellschaftlich nicht anerkannte Gruppen und soziale Außenseiter sollten, aufgrund ihrer ausgegrenzten Stellung, leichter für eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft mobilisiert werden können.

    „Die damit begründete ‚Randgruppenstrategie‘ scheiterte jedoch schon sehr bald an den realen Bedürfnissen der Klienten Sozialer Arbeit. […] Auch erwiesen sich die Angehörigen der ‚Randgruppen‘ (zumindest in den Augen der Studierenden) oft als zu ‚undiszipliniert‘ für den revolutionären Kampf“ (Kuhlmann 2011: 43).

    Während sich viele der aus den Heimen befreiten Jugendlichen jetzt gegen die erneute Bevormundung durch die Studentenschaft zur Wehr setzten, waren viele linke Aktivisten vom fehlenden revolutionären Bewusstsein der Heimjugendlichen enttäuscht. „Die Jugendlichen waren so sehr in ihre eigenen aufbrechenden Probleme verstrickt, […] daß die Realität der herrschenden Verhältnisse völlig weggedrängt wurde“ (Gothe/Kippe 1975: 95).

    Die Akteurinnen und Akteure aus dem linksradikalen und alternativen Spektrum stellten ihren gesellschaftlichen Protest gegen die bestehenden Theorien, Methoden und Praxen der Sozialen Arbeit jetzt in den aktuellen politischen Zusammenhang einer grundlegenden Wertekritik und Systemveränderung. „Die gesamte Sozialarbeit, wie sie in dieser Gesellschaft praktiziert wird, zeugt von einer unerträglichen Blindheit gegenüber den Herrschaftsstrukturen unseres Systems“ (ebenda: 30f.). Die Kritik an der Sozialen Arbeit war nicht neu, sondern so alt wie sie selbst. Ihre Funktion in der bürgerlichen Gesellschaft wurde nicht in der Hilfe und Fürsorge gesehen, sondern in Kontrolle, Anpassung, Disziplinierung, Repression und der ideologischen Verschleierung des Herrschaftszusammenhangs der Klassengesellschaft (vgl. Steinacker 2011: 30ff.).

    Chancengleichheit und Integration für die am Rande der Gesellschaft Stehenden

    Die westdeutsche Sozialpolitik unterstützte in den 1970er und 1980er Jahren „[…] die sich verändernden Denk- und Bewusstseinsstrukturen zur Überwindung eines ‚veralteten‘ sozialen Systems“ (Köhler-Saretzki 2008: 78). Sie versuchte „[…] Chancengleichheit in Bildung und Beruf zu ermöglichen und damit neue Wege der Integration für die am Rande der Gesellschaft Stehenden zu eröffnen“ (ebenda: 78). Nach den anfänglich reichlich zur Verfügung stehenden Geldmitteln, wurden die finanziellen Ressourcen bald wieder knapper. Es setzte ein rasanter und fundamentaler Umbau der bundesdeutschen Sozialpolitik statt. Die Finanzknappheit in den öffentlichen Kassen fügte dem Reformprozess den Zwang zur Kostenminimierung hinzu. Die vom Manager des VW-Konzerns Peter Hartz aufgestellten sogenannten Hartz-Gesetze leiteten einen umfassenden Systemwechsel ein, der heute noch andauert und nahezu das gesamte Spektrum des gesellschaftlichen Lebens betrifft (vgl. Köhler-Saretzki 2008: 79) und die Prinzipen der ‚Neuen Steuerung‘ bestimmen seitdem viel Bereiche der Sozialen Arbeit. In einer, auf Globalisierung und Bankenkrise beruhenden angespannten Finanzsituation, ist gerade der soziale Bereich immer wieder von Kürzungen betroffen. Durch Arbeitslosigkeit bedingte Steuerausfälle und steigende Sozialausgaben belasten nicht nur die Gemeindekassen sozialschwacher Regionen, sie bieten auch radikalen Denkstrukturen Nahrung. Rechtsorientierte Kreise prangern ‚Sozialschmarotzertum‘ und ‚Überfremdung‘ an. Begriffe wie Gentrifizierung, Kinderfeindlichkeit in Innenstadtbezirken, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Unterbezahlung oder Verdrängung durch Wohnraumverteuerung bestimmen schon jetzt die Ausrichtung der Sozialen Arbeit und werden die demokratische Gesellschaft in den kommenden Jahrzenten vor eine herausfordernde Belastungsprobe stellen.

    Was bleibt …

    Die Verhältnisse in den Ämtern, Heimen und anderen Einrichtungen wurden von den in der Heimkampagne Aktiven als skandalös empfunden. „In der nicht aufzulösenden Dialektik von Hilfe und Kontrolle, dem doppelten Mandat der Sozialen Arbeit [vgl. Böhnisch/Lösch 1973], schlug das Pendel historisch betrachtet zumeist zugunsten der Kontrollanteile aus [vgl. Sauer 1979; Heckes/Schapper 1991]“ (Janze/Pothmann 2003: 101). Repressive und autoritäre Fürsorgeerziehung in den 1970er Jahren muss auf der Grundlage heutiger Erkenntnisse als menschenverachtend eingestuft werden. Ihr fehlte, was heute zum pädagogischen Standard gehört, die wissenschaftliche Begleitung, die Arbeit in multiprofessionellen Teams oder die permanente Evaluation des eigenen Handelns. In den Fürsorgeheimen arbeiteten Laien, auf die von Seiten der Heimleitungen, der Fürsorgeverantwortlichen, der Gesellschaft und der Öffentlichkeit ein immenser Druck ausgeübt wurde.

    Rückblickend wissen wir heute, dass die von den Studierenden bemängelten skandalösen Zustände in den Erziehungsheimen, nur die Spitze des Eisberges waren. Gleichzeitig suchten die Akteurinnen und Akteuren nach Alternativen in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit und es entwickelten sich neue Formen sozialer Jugendarbeit. Doch bereits 1977 kritisierten linke Gruppen und in der Sozialen Arbeit tätige Personen, dass  von den damals erkämpften Veränderungen „nur noch halbherzige oberflächliche Reformen geblieben (seien), die diesen Namen nicht verdienen“ (Redaktionskollektiv Info Sozialarbeit 1977: 43). Steinacker warnte 2011 davor, die Veränderungen von ’68 in der Sozialen Arbeit in all zu rosigen Farben zu malen, da viele der Forderungen der Heimkampagne nicht nur nicht erfüllt wurden, sondern aktuell in weitere Ferne gerückt sind, als je zuvor (vgl. Steinacker: 43f.).

    Eines ihrer Hauptziele, die Abschaffung der Fürsorgeheime, hat die Heimkampagne nicht erreicht. Ihr ist es aber gelungen, die Öffentlichkeit wachzurütteln und für die desaströse Lage in den Einrichtungen zu sensibilisieren.

    „Die Heimkampagne hat im demokratischen Sinne das bewirkt, was Staat und Gesellschaft hätten tun müssen. Sie hat mit deutlichen Methoden Veränderungen erzwungen und damit gezeigt, dass Garantien des Grundgesetzes erkämpft werden können, dass selbst ein verkrustetes System wie die öffentliche ‚Fürsorge‘ aufgebrochen werden konnte, in der die Prinzipien Totaler Institutionen mit großer Härte und Konsequenz angewendet wurden“ (Schölzel-Klamp/Köhler-Saretzki 2010: 124).

    Heute lässt sich schwerlich beurteilen, wie sich die Soziale Arbeit ohne die Heimkampagne von 1969 entwickelt hätte. Anhand der vorgelegten Berichte und Darstellungen lässt sich jedoch mit Sicherheit sagen, dass sie den Impuls zur Veränderung der Praxis in den Erziehungs- und Fürsorgeheimen ausgelöst hat. Auch wenn die damaligen Studierenden das Ziel ihrer politische Agitation nicht erreicht haben, so haben sie trotzdem in der Reform der Heimerziehung einen zukunftsweisenden Paradigmenwechsel initiiert und auf den Weg gebracht (vgl. Schölzel-Klamp/Köhler-Saretzki 2010: 12).

    Quellennachweis                                   

    Literaturverzeichnis

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    Damm, D./ Fiege, J./Hübner, A./Hübner, B./Kahl, W./Maas, U./Nowicki, M./Rabatsch, M./ Schön, B. (1978): Jugendpolitik in der Krise, Repression und Widerstand in: Jugendfürsorge, Jugendverbänden, Jugendzentren, Heimerziehung. Frankfurt am Main.

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    Schölzel-Klamp, M./Köhler-Saretzki, T. (2010): Das blinde Auge des Staates, Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder. Bad Heilbrunn.

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    Wagenbach, K. (1987): Nachwort. In: Meinhof, U. M.: Bambule, Fürsorge – Sorge für wen? Berlin. S. 103-110.

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    Internetquellen

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    Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2005): Kinder- und Jugendhilfe – Sozialgesetzbuch – Achtes Buch (KJHG), Berlin. Verfügbar unter: https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbviii/1.html [16.02.2022].

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    Kappeler, M. (2009): Zur zeitgeschichtlichen Einordnung der Heimerziehung, Vortrag in der 1. Arbeitssitzung des runden Tisches zur Aufarbeitung der Heimerziehung der vierziger bis siebziger Jahre am 2. & 3. April 2009. Verfügbar unter: http://gewalt-im-jhh.de/VORTRAG-am-RUNDEN-TISCH-am-02-04-2009_-_Zur-zeitgechichtlichen-Einordnung-der-Heimerziehung.pdf [16.02.2022].

    Köhler-Saretzki, T. B. A. (2008): Heimerziehung damals und heute – Eine Studie zu Veränderungen und Auswirkungen der Heimerziehung über die letzten 40 Jahre! Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln eingereicht beim Department Heilpädagogik und Rehabilitation auf der Grundlage der Promotionsordnung der Heilpädagogischen Fakultät vom 18.07.2001. Köln. Verfügbar unter: http://kups.ub.uni-koeln.de/2649/ [16.02.2022].

    Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.) (2008): Dokumentation. Runder Tisch mit ehemaligen Fürsorgezöglingen aus dem Landesfürsorgeheim Glückstadt. Kiel. Verfügbar unter: https://docplayer.org/39054653-Runder-tisch-mit-ehemaligen-fuersorgezoeglingen-aus-dem-landesfuersorgeheim-glueckstadt-dokumentation-am-19-januar-2008-im-landeshaus-kiel.html [16.02.2022]

    Redaktionskollektiv Info Sozialarbeit (1977): Editorial. Informationsdienst Sozialarbeit, 18, S. 3–5 in Steinacker, S. (2011 ) Hilfe und Politik. Auf der Suche nach einer neuen Sozialen Arbeit im Gefolge von „1968“, Wuppertal, S. 43. Verfügbar unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s12592-011-0075-x [16.02.2022].

    sozialpädagogische sondermaßnahmen berlin e.V. (2012): Verfügbar unter: http://ssb.nostate.net/node/138/ [16.02.2022].

    Wenger, S. (2009): Sie kamen am Sonntag, um die Zöglinge zu befreien. Fachzeitschrift CURAVIVA (12). Bern. S. 40-44. Verfügbar unter: https://www.kinderheime-schweiz.ch/de/pdf/susanne_wenger_artikel_heimkampagne_curaviva_nr12_2010.pdf [16.02.2022].

    Weiterführende Literatur

    Bittermann, K. (Hrsg.) (1986): Die alte Straßenverkehrsordnung, Dokumente der RAF. Berlin.

    Böhnisch, L./Lösch, H. (1973): Das Handlungsverständnis des Sozialarbeiters und seine institutionelle Determination. In: Otto, H.-U./Schneider, S. (Hrsg.). Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit der Gegenwart, Band 2. Darmstadt. S. 21-40.

    Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) (2001): Die Glen Mills Schools, Pennsylvania, USA – Ein Modell zwischen Schule, Kinder- und Jugendhilfe und Justiz? München.

    Gehltomholt, E./Hering, S. (2006): Das verwahrloste Mädchen – Diagnostik und Fürsorge in der Jugendhilfe zwischen Kriegsende und Reform (1945 – 1965). Opladen.

    Heckes, C./Schrapper, C. (1988): Traditionslinien im Verhältnis: Heimerziehung – Gesellschaft: Reformepochen und Restaurierungsphasen. In: Peters, F. (Hrsg.). Jenseits von Familie und Anstalt – Entwicklungsperspektiven in der Heimerziehung I. Bielefeld. S. 9-12.

    Hammerschmidt, P./ Tennstadt, F. (2012): Der Weg der Sozialarbeit: Von der Armenpflege bis zur Konstituierung des Wohlfahrtsstates in der Weimarer Republik. In: Thole, W. (Hrsg.). Grundriss Soziale Arbeit, Wiesbaden, S. 73-85.

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    Kuhlmann, C. (2012): Soziale Arbeit im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. In: Thole, W. (Hrsg.). Grundriss Soziale Arbeit, Wiesbaden, S. 87-104.


    [1] Zitat aus einer Veröffentlichung des Deutschen Ausschusses für Erziehungs- und Bildungswesen, als Motto dem Bericht ‚Zur Situation der West-Berliner Heime‘ vorangestellt (vgl. Schölzel-Klamp/Köhler-Saretzki 2010: 91).

    [2] Odyssee durch zehn Fürsorgestellen, 18 Jahre lang Zögling der Pflege- und Heimerziehung.

    [3] Selbst Heimopfer von 1961 bis 1976, jetzt Journalist und Buchautor.

    [4] Beide Gründungsmitglieder des SSK – Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Köln e.V..

    [5] Teilnehmerin der Staffelberg-Kampagne am 28.06.1969 und Mitglied der in der Heimkampagne aktiven sogenannten ,Baader Gruppe‘.

    [6] Teilnehmerin der Staffelberg-Kampagne am 28.06.1969,  Journalistin und Drehbuchautorin des Filmes ‚Bambule‘ .

    [7] 1960 bis 1980 tätig als Sozialpädagoge in der Praxis der Heimerziehung (Gruppen- und Heimleiter), später Professor für Erziehungswissenschaften und Sozialpädagogik an der TU Berlin.

    [8] Studium in Psychologie und Heilpädagogik, 1967 bis 1970 Leiter der Beobachtungsstation im Landheim Erlenhof in Reinach im Kanton Basel-Landschaft in der Schweiz, 1970 bis 1979  dort Heimleiter.

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