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Höret die Kassandras!

    Von zwei Besuchern des Tags der nicht-offenen Tür der Bundesregierung.

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    Von Samstag, dem 20.08., bis Sonntag, dem 21.08.2022, lud, wie in jedem Jahr – mit Ausnahme der Coronazeit –, die Bundesregierung in die Hauptstadt zum Tag der offenen Tür ins Kanzleramt, in einige Ministerien und ins Bundespresseamt ein. Für Jubel-Perser und wohlgesonnene Regierungs-Claqueure wurde in dieser Funkausstellung für Arme von der kostenlosen Jutetasche mit Bundesadler, über den Roten Teppich mit Bundeswehrkapelle bis hin zur Frage- und Antwortrunde mit Kanzler alles geboten, was das Herz des einfachen Menschen begehrt.

    An diesem Sonntag jedoch erscholl vor dem Kanzleramt am Rande der ca. 300 Meter langen Warteschlage von drei in Schwarz gekleideten Damen mit Turban mehrfach der laute Ruf, „Höret die Kassandras, die Welt ist dunkel geworden„. In der Rolle der mythischen Seherin Kassandra – die vom Gott Apollon dazu verdammt wurde, dass ihren Voraussagen niemand Glauben schenke, woraufhin der Untergang Trojas besiegelt war – warnten sie die dort geduldig in der Nachmittagssonne Wartenden eindringlich vor einer Epoche der Armut, vor Krieg, Isolation, Maskierung, Folter, Hunger und Krankheit.

    Doch schon kurz nach Beginn wurde diese street art performance von einem Verantwortlichen der Organisation des türoffenen Tages mit der Aufforderung gestört, er habe hier am heutigen Tage das Hausrecht, und mit der Forderung an die 3 Kassandras verbunden, den Platz zu verlassen: Ungeachtet der mehreren hundert sich dort aufhaltenden Menschen war die Anwesenheit der drei Damen in Schwarz nicht erwünscht.

    Nach kurzer Debatte begaben sich die Damen nun auf die gegenüberliegende Straßenseite, um die Kunstaktion fortsetzten zu können. So waren sie immer noch von der Warteschlage gut zu hören und zu sehen, allerdings etwas gestört durch den weiterhin fließenden Straßenverkehr. Doch auch hier blieben die 3 Kassandras nicht lange unbehelligt. Schon nach den ersten Sätzen des Vortrages erschien jetzt ein Polizei-Mannschaftswagen, dem vier hochmotivierte Beamte entstiegen. Diese bauten sich vor den dort deklamierenden Damen, die auf Sicherheitsbetonsockeln am Straßenrand standen, gefahrabwehrend auf und verlangten nach einer Erklärung des Sachverhaltes. Ob man eine Demonstration oder Versammlung anmelden möchte, war die wiederholt gestellte und zu beantwortende Frage der Polizisten.

    Nein, „Eine Kassandra hat keine Meinung, eine Kassandra ist eine Seherin und sagt, was sie sieht“, war die einhellige Antwort. Man sei Künstlerin, habe nichts anzumelden, trage auch keine Schilder, benutze keine Megafone, und man wolle auch keine politische Meinung äußern, sondern nur das beschreiben, was man sehe, ganz in der Rolle der Seherin Kassandra. Nach kurzem Disput sowie der Frage nach der Dauer der Kunstaktion und ohne auf die immer wieder gestellte Frage der Anmeldung eine zufriedenstellende Antwort bekommen zu haben, zogen sich die Polizeibeamten in ihr Fahrzeug zurück und ließen die Damen gewähren. Fortan beobachteten das weitere Tun der Neugriechinnen einige ganz besonders unauffällig gekleidete Herren, – vermutlich alle mit Hörbeeinträchtigung, worauf die dunklen Knöpfe in den äußeren Hörgängen schließen ließen – es könnte ja noch etwas Dramatisches passieren.

    Nach etwas mehr als 30 Minuten beendeten die 3 Kassandras ihren Vortrag mit den abschließenden Worten: „Höret die Kassandras. Die Welt ist dunkel geworden. Die Menschen wurden gewarnt„.

    Eine Wiederholung gab es dann an einem weiteren geöffneten Ministerium.

    Dort, am Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten, konnte sich die Performance der mahnenden Seherinnen im Schallbereich der Bauten ganz wunderbar zur Unüberhörbarkeit ausweiten. Eine lange Schlange der den Eintritt Begehrenden (es hieß zu Recht, dass Frau Außenministerin im Inneren beschaut werden könne) starrte – gleich dem Harren auf das üblicherweise verspätete Eintreffen des Personennahverkehrs – unmutig gen Einlass. In diese missmutig-stoisch sich gebärdende Wartekolonne kam nun sogleich Bewegung. Denn der Hall der drei Stimmen war durchdringend. Einige der Wartenden zogen sich nach vorn zusammen, um dem Unheil der unerwarteten Verlautbarung irgendwie noch entweichen zu können. Andere richteten Frisuren oder schauten gegen die steinerne Wand, ob vielleicht dort Insekten oder Anderes Ablenkung anbieten könnten. Doch das „Höret die Kassandras“ oszillierte in aller Ohren. Geschickte Konter meinten einige bieten zu können, indem sie Lachen vorspielten oder unwirsch „Hört endlich auf!“ riefen. Wer mag sich schon den Sonntagnachmittag und die Besichtigung eines grauen, freilich durch viel Glas auf Transparenz getrimmten Neubaus verderben lassen, aus dem weltumspannend der Atem der stetig erneuerten deutschen Außenpolitik hervorschwallt.

    Lasst uns wieder wer sein, die Welt mitbestimmen und zeigen, dass wir gut und herrlich sind! Und dann treten diese schwarzgewandeten Weiber an, zerstören die Hoffnung auf Heil und Gloria mit den Unkenrufen der ewig Gestrigen.

    Aber auch hier griff erneut die Polizei ein. Ein blutjunger Uniformierter mit entsprechender Zielfunkausstattung wurde vorgeschickt. Er wirkte souverän und gab dem Chef seine Meldung nach Befragung der 3 Kassandras durch. Deren Performance ging dann jedoch flott ohne großes Tamtam der Polizei weiter.

    Erst danach, als die Damen den Rückzug gen Friedrichswerdersche Kirche antraten, eilten so ca. 8 bis 10 Beamte herbei. Es wurde heftig diskutiert und schlussendlich wurden die Personalien der 3 Kassandras mit Hilfe des fotografischen Gedächtnisses des Einsatzleiters aufgenommen.

    Wie Kleinstkomenten umliefen wir, die heimlichen Unterstützer und Dokumentatoren der Aktion die Gruppe. Dauerhaft und unbeirrt hielt eine unserer Teilnehmerinnen mit ihrer Kamera, trotz Warnungen und Unterlassensaufforderungen der Polizei, das Geschehen fest. Zwei junge Damen aus der Warteschlange vorm Amt waren sichtlich angetan von der Vorstellung und bezeugten Beifall und Sympathie dafür. Das freute uns ganz besonders.

    Und es sollte weitergehen. Bitte noch eine schöne Vorstellung vor dem alten Museum, am schönen Springbrunnen auf der Vorplatzwiese. Doch es wurde vor Ort anders entschieden, da die Mehrzahl der Zuhörer dort ganz gewiss fremdsprachige Touristen waren. Vielleicht wäre eine englische Version des Vorgetragenen eine gute Idee für solch touristisch belagerte Plätze der Hauptstadt. Also beschlossen wir ein gutes und aufmunterndes Ende, wegen des Erfolgs zuvor. Es gab dann eine heitere Abschiedsrunde am Spätie auf leeren Getränkekästen.

    Wie bereits in der Mythologie und wie wahrscheinlich auch nicht anders zu erwarten, erzeugten die Mahnungen der 3 Kassandras insgesamt beim wartenden Volk oft nur ungläubige Blicke, selten auch deutliche Unmutsäußerungen und blieben, in Analogie zur Geschichte, natürlich ungehört. Nichtsdestotrotz ist die Form der Kunst anscheinend derzeit der beste Weg, die Probleme und drohenden Krisen anzusprechen und zu thematisieren, ohne sofort als Coronaleugner, Putin-Versteher oder gar Nazi diffamiert zu werden. Die trojanischen Pferde der staatlichen Propaganda darstellerisch zu durchschauen, gelingt grandios. Es bleibt zu hoffen, dass die Mahnungen der 3 Kassandras, entgegen Apollons Fluch, alsbald auch in der breiten Masse der Bevölkerung Gehör finden werden und dass damit das dystopische Witwengewand getauscht werden kann gegen das Weiß der Reinheit, Unschuld, Hoffnung und Zuversicht, im Sinne einer menschengerechten und von Spaltung befreiten Gesellschaft.

    Das Video gibt es auch hier: https://freie-linke-berlin.de/videos/die-3-kassandras-beim-tag-der-verschlossenen-regierungstuer-am-21-08-22/ oder hier: https://kraut.zone/w/uMJxxf1zADkwjhV74JiZQr

    Und hier berichtet eine der Kassandras selbst:

    https://freie-linke-berlin.de/archiv/ich-eine-der-kassandras-sehe-berlin-am-21-08-22/

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